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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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ereignet. Man muss nur recherchieren und fördert die seltsamsten Geschichten zutage. Ja, es ist schon oft passiert. Doch niemals hier, niemals in New York.«
    »Wo dann?«, fragte Scarlet.
    »Wie hast du es herausgefunden?«, wollte Jake wissen.
    Queequeg sah ihn an und lächelte milde. »Man muss nur eine Bibliothek oder das Internet bemühen, und schon findet man die seltsamsten Dinge heraus.« Er lehnte sich zurück, machte es sich bequem. »Die Geschichten warten meist nur in aller Seelenruhe darauf, endlich entdeckt zu werden.«
    »Und Sie haben die Geschichten ausgegraben?«, fragte Scarlet.
    »Einige davon.«
    »Wir sind ganz Ohr«, sagte Jake.
    »Dachte ich mir.« Queequeg genoss es sichtlich, in die Rolle des Erzählers zu schlüpfen. Mit seiner tiefen Stimme mit dem Akzent, der nach dem Salz der See klang, begann er zu berichten, was er in Erfahrung gebracht hatte. »Die meisten Berichte«, sagte er, »führen uns nach London zurück, in die Stadt am dunklen Fluss.« Er sah seine Zuhörer eindringlich an, als wolle er sich vergewissern, dass sie auch tatsächlich aufmerksam lauschten. »Dort, in der Stadt der Schornsteine, wie sie von manchen auch manchmal genannt wird, und der uralten Metropole darunter, dort häuften sich die Fälle der rätselhaft verschwindenden Kinder. Man kann die Spur dieser Dinge bis in die frühen Zeiten zurückverfolgen.«
    »Und sie sind alle ähnlich?«, hakte Jake nach.
    »Alle, wirklich alle. Es ist erschreckend.« Er fuhr fort. »Petronius Arbiter, ein römischer Dichter, verfasste neben dem Satyricon auch einige Berichte über das römische Leben in Londinium, wie die Stadt früher hieß. Im Jahre achtundfünfzig
nach Christus kam es dort zu Vorkommnissen, die als Kinderraub von Britannien die Menschen in Angst und Schrecken versetzten. In dem gesamten Gebiet der Stadt Londinium verschwanden kleine Kinder, einheimische wie römische Kinder gleichermaßen. Kein einziges wurde wiedergefunden.«
    »Und alle waren sehr jung?«
    Er nickte. »Dann«, fuhr Queequeg fort, »kam es fünfhundert Jahre später zum nächsten großen Verschwinden. Master Geoffrey Chaucer, der Chronist, erwähnt in seinen Canterbury-Erzählungen einen Kinderraub, der im Jahre 1348 während der großen Pestepidemie Hunderte von Müttern und Vätern verzweifeln ließ. Das ungeklärte Verschwinden der Kinder schrieb man der Krankheit zu, und niemand machte sich weitere Gedanken darüber. Genauso ging es 1563.«
    Scarlet fühlte sich mit einem Mal ganz einsam. Sie fragte sich, ob sie dem allem gewachsen war.
    »Dann«, redete Queequeg unbeirrt weiter, »fand ich in den Tagebüchern von Samuel Pepys einen Bericht, der sich mit dem Verschwinden fast aller Kinder aus der damaligen City of London auseinandersetzte. Auch hier waren die Kinder wieder fünf Jahre alt und jünger. Im Jahr 1666 aber brannte die Stadt, und unzählige Menschen starben in ihren Häusern und in den Straßen. Deswegen brachte dem Kinderverschwinden niemand hinreichende Beachtung entgegen.« Die Stimme wurde zu einem Teppich, in dessen Muster immer wieder neue und wieder nur neue Geschichten verwoben waren. »Ich forschte weiter, weil ich das ungute Gefühl hatte, dass es da einen Zusammenhang geben könnte.« Queequeg rief sich alles ins Gedächtnis zurück und verkündete: »Ich
stieß auf Berichte aus aller Welt, die über ähnliche Vorfälle zu berichten wussten. Es war unglaublich, was sich bereits alles zugetragen hatte.«
    Scarlet sah zu Jake hinüber und fühlte sich nicht mehr ganz so allein. Er war da, und das war gut so. Darüber nachdenken wollte sie eigentlich nicht. Es war gut, wie es war.
    Punktum.
    »Da gab es eine Siedlung«, hörte sie Queequeg erzählen, »in der Oase von el-Bahariya in der weiten Wüste von Libyen. Das war eine der ersten Geschichten, auf die ich stieß. Eine Skorpionplage befiel diese Oase, und keiner wusste sich zu helfen. Die Skorpione waren überall, selbst in den Wasserschläuchen. Sie waren in den Zelten, unter den Hufen der Kamele, in den Schlafstätten der Kinder. Sie töteten die Schafe und die Kamele, stachen Frauen und Männer und Hunde. Doch dann, als die Not am größten war, kam eine wunderschöne Reisende in die Oase, eine Fremde ohne Namen. Sie war eine Beduinin. Sie trug einen Stab aus Holz mit Verzierungen und einem funkelnden Stein, eingefasst in helles Holz. Niemand wusste, woher die Frau in Weiß kam, niemand konnte sagen, welchem Stamm sie angehörte.«
    Die Fremde erbot sich

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