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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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jedoch in einer großen Stadt, so kann es viele Gründe geben, weswegen es in Vergessenheit gerät. Große Städte vergessen schneller, als kleine Dörfer es tun.
    »Das, was hier in Gotham geschieht, ist den Geschehnissen aus den Geschichten sehr ähnlich.« Queequeg redete einfach weiter. Es war fast so, als habe er einen tiefen Brunnen voller Worte ausgegraben. »Der letzte Kinderraub, von dem wir wissen, ereignete sich vor etwas über zehn Jahren in London während der Manderley-Krise. Aufgrund der Konflikte zwischen den beiden großen Häusern Manderley und Mushroom kam es zu Ausschreitungen in der Stadt, die ähnlich schlimm waren wie die Whitechapel-Aufstände vor mehr als hundert Jahren. Doch dann hörte es auf, einfach so.«
    »Und jetzt hat es erneut begonnen.«
    »Ja«, antwortete Queequeg, »und zwar in unserer Mitte.« Jake wollte etwas sagen, aber Queequeg hob abwehrend die Hand. »Es gibt noch weitere Fälle, über die ich gestolpert bin. Während der Vierziger- und Fünfzigerjahre des sechzehnten Jahrhunderts verschwanden Kinder in Paris, Brüssel und
Leuven. Im Jahre 1583 ereilte einige Dörfer in Polen und die Stadt Warschau das gleiche Schicksal.«
    »Und immer war es die gleiche Geschichte?«
    »Immer die gleiche. Die Kinder verschwanden, ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen, als hätte der Erdboden sie verschluckt. Und immer wurde eine hübsche Frau gesehen, weiß gekleidet und mit hellem Haar, umgeben von Geheimnissen.«
    Wie ein Gespenst geisterte diese Gestalt nebelhaft durch all diese Geschichten.
    »Der letzte dieser Fälle in Amerika«, näherte sich Queequeg schließlich dem Ende seines Berichts, »ereignete sich auf Roanoke Island. Das war der einzige Vorfall auf diesem Kontinent. Danach kam es nie wieder zu einem ähnlichen Geschehen.«
    »Bis vor Kurzem.«
    »Ja, bis es kürzlich hier anfing.«
    »Was genau ist auf Roanoke passiert?«, wollte Jake wissen.
    »Die Secotan, so sagt man, fürchteten sich vor den Engländern, die ihr Land in Besitz nahmen, und es soll ausgerechnet eine Engländerin gewesen sein, die die Kinder entführt hat. Sie habe sie an einen eiskalten Ort geführt, munkelten die Ältesten.«
    »Und in Gotham?«
    »Die Frau in Weiß wurde auch hier gesehen. Sie wird beschrieben wie jene geheimnisumwitterte Frau in den Geschichten von alters her. Eine Fremde, die durch die Straßen New Yorks zieht und Kinder stiehlt.«
    Die Oase in der libyschen Wüste, Rom, Hameln, Londinium, St. Cérilly, Paris, Warschau, Brüssel, Roanoke Island, New York – wo, in aller Welt, lag zwischen all diesen Orten,
die so unterschiedlich waren und auch so weit entfernt voneinander, nur die Verbindung? Die Aufzählung klang, als habe sie jemand ohne Sinn und Verstand aufgestellt. Doch es musste einen Zusammenhang geben. Viel zu ähnlich waren die Dinge, die sich ereigneten. Immer und immer wieder waren es die gleichen Geschichten, die sich die Menschen erzählten, immer waren es die gleichen Unglücke, die sich zugetragen hatten.
    »Viele dieser Vorfälle ereigneten sich in der Alten Welt, in Europa«, sagte Jake plötzlich.
    »Dachte ich mir auch«, entgegnete der Tunnelstreicher. Scarlet wiederholte geistesabwesend die Jahreszahlen. Jake fragte: »Welche Verbindung gibt es zwischen Europa und Amerika?«
    Scarlet überlegte kurz und formulierte die Frage anders. »Welche Verbindung gibt es zwischen Roanoke Island und England?«
    »Die Engländer haben dort amerikanischen Boden in Besitz genommen. Sie haben ihre Siedlungen in Virginia gegründet.« Das war alles, was Jake dazu einfiel.
    Und Scarlet fragte sich noch einmal laut, ob Lady Solitaire die Frau in Weiß war, die in all den Geschichten auftauchte, und sagte: »Ich muss mit ihr reden!«
    »Ist das klug?«, fragte Queequeg.
    »Keine Ahnung«, sprudelte es aus ihr heraus, »aber es muss sein. Sie weiß auch, wer ich bin. Davon bin ich überzeugt.« Sie sah dem Tunnelstreicher in die Augen. Sie waren grün. »Können Sie uns zu Lady Solitaire bringen?«
    »Ich weiß nicht, wo sie sich aufhält.«
    »Aber Sie sagten doch, dass man alles herausfinden könnte.« Sie ließ nicht locker.

    Queequeg überlegte. »Wir könnten den Kojoten aufsuchen«, schlug er vor, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.
    »Den Kojoten?«
    Queequeg nickte. »Der Kojote, der Listige Lord.« Er grinste. »Manche glauben sogar, dass er sich einst mit dem Träumer angelegt hat, am Anbeginn der Zeit. Ich selbst bin mir nicht sicher, ob der Kojote

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