Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
hatten. Deswegen fiel der Verdacht auch auf die Wendigo. Keines der Kinder, die vermisst werden, ist, wie gesagt, älter als fünf Jahre. Das ist ein weiteres Rätsel.«
»Was hast du mit der Sache zu tun?«
»Die Tunnelstreicher helfen der Metropolitan Garde und den Leuten des Dukes bei der Spurensuche. Bisher allerdings ohne Erfolg.« Queequegs Gesicht verfinsterte sich. »Die Leute verdächtigen jeden, den sie nicht kennen.«
»Was ist mit mir?«, fragte Scarlet.
»Sie sind die Fremde, die nach Gotham kam. Man erzählt sich, dass Sie etwas mit dem Tod Master Van Winkles zu tun haben. Man erzählt sich, dass Sie nicht allein hierhergekommen sind. Man erzählt sich, dass Sie ein Geheimnis umgibt.«
Scarlet rollte mit den Augen. »Ist das alles?«
»Ist das nicht genug?«
»Sie weiß nicht, wer sie ist«, erklärte Jake und erzählte in nur wenigen Worten die Geschichte seiner Begleiterin – und als er fertig war, da betrachtete Queequeg still die junge Frau mit dem pechschwarzen Haar und den traurigen Augen.
»Die Menschen nennen keinen Namen. Sie sprechen nur von einer Frau, die geheimnisvolle Fragen stellt. Einer Frau in Weiß. Sie soll sich auch nach Ihnen erkundigt haben.«
»Eine Frau in Weiß?« Scarlet betrachtete ihn voller Misstrauen.
Queequeg lächelte. »Sie sind wachsam, Miss Scarlet. Das ist gut so.« Er sog erneut an der Pfeife. »Mistress Atwood sagte mir bereits, dass man sich vor Ihnen in Acht nehmen muss.«
»Sie haben sie getroffen?«, sprudelte es aus Scarlet hervor.
»Ja, vorhin, am oberen Broadway Siding habe ich Christo Shakespeare aus der Public Library und Mistress Atwood aus Myrtle’s Mill getroffen. Sie haben nach euch beiden gesucht.« Von ihnen also hatte Queequeg erfahren, dass etwas geschehen war. Dass die Wendigo sie in der Bibliothek überrascht hatten. Dass sie geflohen waren.
»Ging es ihnen gut?«, fragte Scarlet.
»Die Wendigo haben sich nicht im Geringsten um sie gekümmert. Sie waren nur hinter Ihnen her, Miss Scarlet.« Er lächelte, und Scarlet erkannte eine ganze Reihe von Goldzähnen, in denen sich das matte Licht brach und ihm Sterne in den Mund zauberte. »Hätte ich gewusst, dass ihr hier auf mich wartet, dann hätten mich die beiden begleiten können.«
»Haben sie gesagt, wo sie hinwollten?«
»Zurück in die Bibliothek, denke ich. Sie wollten nach Hinweisen suchen. Die Mistress beschäftigt sich noch immer mit den Eistoten und den Pflanzen, die sie bei ihnen gefunden hat.«
»Gibt es Neuigkeiten bezüglich der Schlafwandler?«, fragte Jake. »Haben sie vielleicht etwas mit dem Verschwinden all dieser Kinder zu tun?« In Zeiten wie diesen versuchte man jeden Anhaltspunkt zu packen.
»Es gibt einige Neuigkeiten bezüglich der Dreamings«, antwortete
Queequeg mit dunkler Stimme, und selbst die verschlungenen Tätowierungen schienen nun ernster auszusehen als noch vorhin.
Scarlet bemerkte, dass auch Jake noch nie etwas von diesen Wesen gehört zu haben schien. Er zog sich die Brille aus, putzte die Gläser mit seinem Pullover, setzte sie wieder auf.
»Wer, in aller Welt, sind denn nun die Dreamings?«, wollte er auch sogleich wissen.
»Sie sind das, was wir schlechte Träume nennen«, sagte Queequeg.
»Was haben sie mit den Schlafwandlern zu tun?«
»Vielleicht nichts, vielleicht aber auch alles.«
Dann inhalierte er weiteren Rauch, schloss kurz die Augen und begann seine Geschichte zu erzählen.
»Man sagt«, so begann er die Geschichte, »dass es einmal eine Zeit gegeben hat, in der die Zeit selbst noch gar nicht erschaffen worden war. Die Zeit vor der Zeit, so nennen die Indianer sie. Die träumende Zeit. Traumzeit. Ein Zustand des andauernden Träumens.«
Der allmächtige Träumer, der viele Namen hatte seit dem Anbeginn der Welt, existierte allein, am Anfang. Er war alles, und alles war in ihm. Er träumte die Welt so, wie später die Welt vielleicht sogar ihn träumen würde. Er herrschte über die Welt, und die Wesen, die er sich erschaffen hatte, waren ihm untertan. Das war die Schöpfung. Das war die Welt.
»Doch dann sah er, dass sich die unsteten Gedanken in den Köpfen mancher Menschen selbstständig machten. Dass die Menschen eigene Welten entstehen ließen. Dass sie an Dinge dachten, die es gar nicht gab. Und in dem Augenblick, in dem sie daran dachten, da begannen diese Dinge zu existieren.«
Der Träumer sah mit Erschrecken, dass auch die Schöpfung, wie er selbst, die Fähigkeit zum Träumen besaß. Es verunsicherte ihn,
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