Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
in dem Echo war nichts außer Kälte und Dunkelheit.
Scarlet folgte Queequeg durch einen Tunnel, dessen Wände feucht waren und dessen Boden schmalen Rinnsalen brackigen Wassers ein Zuhause bot. Es war kalt hier unten, wenn auch nicht so kalt, dass man den Winter, der oben in der Stadt daheim war, hätte erahnen können. Es gab Fallwinde, die unangenehm waren, und manchmal hörte sie in der Dunkelheit die Ratten rascheln. An den Wänden waren gelbe Schilder, die vor elektrischen Leitungen warnten, manchmal Kästen, in denen sich Telekommunikationskabel bündelten. Tropfende Abwasserrohre liefen über ihren Köpfen an der niedrigen Decke entlang. Es war eine stille Welt, in der die Finsternis regierte.
»Ich hasse Tunnel«, entfuhr es ihr. Und damit war wohl wieder einmal alles gesagt.
»Es dauert nicht mehr lange«, verkündete der Tunnelstreicher, der das kurze Gespräch mitangehört hatte.
Queequeg führte sie auf Schleichwegen durch die uralte Metropole, seit mehr als einer Stunde schon.
Über labyrinthisch verzweigte, wohl längst vergessene Treppen, vorbei an zerfallenen Tempelanlagen und Gruben, in denen Tiere fauchten, durch Rinnsale, die manchmal zu Flüssen werden konnten, Leitern hinab in Schächte, die seit Jahren niemand mehr betreten hatte, wieder hinauf in Kloaken, die man schnell hinter sich lassen musste, wollte man den giftigen Dämpfen entgehen. Es war eine Welt, die vor langer, langer Zeit erbaut worden war. Menschen hatten sich mit den wenigen Werkzeugen, die ihnen zur Verfügung gestanden hatten, durch die Erde gegraben und erschaffen, was
jetzt vor ihnen lag. Eine Welt, die tiefer war als das Empire State Building hoch.
»Wir gehen alle zu Fuß«, hatte Queequeg ihnen verkündet. »Wir nehmen die Route hinauf zur Park Row.« Er hatte seinen Wein geleert und sich erhoben, den Mantel übergeworfen und die Harpune geschultert. »Es hinterlässt viel weniger Spuren, wenn wir uns wie die Streicher bewegen.« Die Tunnelstreicher schienen ungern zu warten oder anderweitig Zeit zu vergeuden. Queequeg hatte sich von Starbuck verabschiedet, und schon war die Reise losgegangen.
Das Motorrad hatten sie bei der Pequod zurückgelassen. »Irgendjemand wird dafür Verwendung haben«, hatte Jake nur gesagt und die Maschine, die ihnen so treue Dienste geleistet hatte, ein letztes Mal berührt.
»Wollen wir hoffen, dass die Wendigo uns diesmal in Ruhe lassen«, hatte Queequeg geknurrt und war vorangegangen.
Vorsichtig hatte er um Ecken gespäht, war an den Wegkreuzen stehen geblieben und hatte Witterung aufgenommen, hatte den Boden nach Spuren abgesucht und die Wände betrachtet, als könnten sie Zeugnis davon ablegen, wer hier vor Kurzem den Weg entlanggekommen war.
Scarlet und Jake war nichts anderes übriggeblieben, als ihm zu folgen.
Die meiste Zeit über hatten sie geschwiegen. Jeder hatte seinen eigenen Gedanken nachgehangen, und Jake Sawyer hatte grimmig und ernst gewirkt und ebenso wachsam, wie es der Tunnelstreicher stets war.
So waren sie gegangen und gegangen.
Bald schon hatten Scarlet die Füße wehgetan, und auch die Orientierung hatte sie recht schnell verloren. Es war hinab- und wieder hinaufgegangen, die Gänge hatten Haken
geschlagen und sich andauernd in neue Richtungen gewunden.
Also hatte sie es aufgegeben.
Sie musste Queequeg vertrauen.
Einen anderen Weg gab es nicht.
Und dann, als sie Downtown Market längst verlassen hatten, waren Scarlet zum ersten Mal die vielen Zettel mit den gezeichneten Bildern und den Namen der vermissten Kinder aufgefallen. Überall hingen sie in den Tunneln, waren an den Wänden und den Laternen und den Gittern befestigt. Sie sahen alle gleich aus: da war ein Bild, eine grobkörnige Fotografie, eine mit Bleistift dahingehauchte Zeichnung, und dazu jeweils ein Name und die verzweifelte Bitte der Angehörigen, eine Nachricht zu schicken, falls man ihr Kind gesehen habe. Ein kurz gehaltener Text informierte über die Umstände und den Ort des Verschwindens. Die Hoffnung, die an jedem dieser Zettel haftete, war schmerzhaft spürbar, selbst im dämmrigen Halbdunkel der Gänge.
»Warum gehen wir nicht nach Liberty Island?« Scarlet stapfte inzwischen müde durch den Dreck am Rande eines Abwasserkanals. »Wenn dort die Lykopolis ist, dann lebt der Kojote vielleicht dort!«
Queequeg schaute sie an, als habe sie etwas durch und durch Dummes gesagt.
»War nur eine Frage«, sagte sie entnervt.
»Die Wölfe dort sind nicht sehr freundlich«, erklärte ihr
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