Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
hatte. Und dass sie sich vor den dunklen Gemäuern gefürchtet hatte.
»Wir sollten wirklich vorsichtiger sein«, murmelte sie.
Jake flüsterte nur: »Er weiß, was er tut.« Besorgt wirkte er dennoch.
»Na, hoffentlich.«
Es war ein fest gemauerter Hohlraum, in den Queequeg sie führte. Es gab keine Fenster und nur Treppen aus festem Stein, die wie eine Spirale in einer Halle aus Nacht und schwebenden Fäden stand. Es war ein fast siebenundachtzig Meter hohes Monument, das mitten in den eisigen Fluten des schmutzigen East River stand, ein Weltwunder, das Hunderte von Männern dort unten verankert hatten, im Morast und Schlick des Flussbettes. Und wenn es eine Falle war, dann würde der einzige Weg, der sie hinausführte, der Weg sein, auf dem sie jetzt herkamen.
Sie seufzte, rieb sich die Augen.
Nein, Scarlet hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.
Es wurde stärker und stärker, je tiefer sie sich alle in den Brückenpfeiler vorwagten.
An den Wänden, auch das erkannte Scarlet jetzt, befanden sich Zeichnungen, die Kunde taten von der Geschichte dieser Brücke. Man erkannte Senkkästen, die wie flache
Schiffe aussahen, gewaltig und so groß wie das Fundament der neugotischen Brückentürme. Da waren Bilder von der Eröffnung der Brücke am 24. Mai 1883. Drängelnde Menschenmassen, die sich zum ersten Mal auf die Brücke trauten und von Manna-hata hinüber nach Brooklyn spazierten. Oldtimer, die über die Straße unter den Fußwegen fuhren, elegante Damen mit Schirmen und feine Herren mit hohen Hüten und Gehstöcken.
Dann veränderten sich die Darstellungen.
Je tiefer sie hinabstiegen, desto andersartiger wurden die Bilder. Da waren jetzt kleine Netze zwischen den Drahtseilkonstruktionen gespannt. Spinnen krabbelten im Licht der Sonne auf den Netzen herum.
Die Brooklyn Bridge sah auf diesen Bildern wie ein einziges riesiges Spinnennetz aus. Ein Spinnennetz, hinter dem sich die prächtige Skyline Manna-hatas erhob und im glei ßenden Sonnenlicht glänzte.
Dass die Spinnen den Menschen beim Errichten der Brücke geholfen hatten, stand außer Frage.
»Sie sind da«, flüsterte Queequeg weiter unten.
Scarlet schaute auf.
Ja, sie spürte es.
Dann sah sie es.
Sie sah es, weil es Lichter gab. Lichter, die lebendig waren.
Schemenhafte Wesen schwebten zwischen den Spinnenfäden in den Gängen des Treppenhauses umher, und eine sanfte, stille Leuchtkraft ging von ihnen allen aus. Ob diese glimmenden Schemen in der Finsternis tot oder lebendig waren, das vermochte Scarlet nicht zu sagen.
»Was, in aller Welt, ist das?«, fragte sie.
Erst jetzt, als die Geisterlichter in Scharen durch die Dunkelheit
schwebten, fiel Scarlet auf, dass es hier unten keine Lampen gab, nicht eine einzige. Dennoch konnte sie Konturen erkennen, je tiefer sie sich in den Brückenpfeiler vorwagte. Es flackerte überall.
Die Geisterlichter summten.
Ja, sie sangen leise Melodien.
Lieder, die Scarlet nicht kannte.
»Damals, als die Brücke erbaut wurde, sind viele Arbeiter hier unten gestorben«, erklärte Jake ihr leise. »Sie mussten das Felsgestein im Flussbett zertrümmern und den Schlamm aus den Senkgruben pumpen und die Fundamente befestigen. Es gab häufig Unfälle.« In seinen Augen glitzerte es wie Morgentau, und Scarlet fragte sich, ob er gerade an seinen Vater dachte. Wieder einmal fiel ihr auf, wie wenig sie doch über Jake Sawyer wusste.
Sie dachte kurz an den Moment, den sie eben erlebt hatte, hoch oben auf dem Plateau des Pylonen, im eisigen Wind. Doch dann, viel zu schnell, verwarf sie den Gedanken. Nein, sie wollte jetzt nicht daran denken. Es gab anderes, was wichtiger war.
Also betrachtete sie die Bilder.
Und versuchte, sich den Tag des großen Triumphes vorzustellen.
New York in Aufruhr, weil ein neues Wunderwerk erschaffen worden war. Abertausende von Menschen, die von überallher an diesen Ort strömten und die sich alle rund um das neue Bauwerk versammelten. Manche trauten sich nicht, es zu betreten. Zu gewaltig erschien ihnen die Brücke. Nie zuvor hatten sie etwas Derartiges erblickt.
»Das sind die Geister derjenigen, die gestorben sind«, flüsterte Jake. »Sie sind jetzt Geisterlichter.«
Und Queequeg, der stehen geblieben war, um sich umzuschauen, erklärte ihr: »Viele der Arbeiter, die beim Bau gestorben sind, wurden hier unten belassen. Sie versanken im Schlamm des Flusses, ertranken, wurden von Geröll und Schutt begraben, erstickten im Vakuum. Ihre armen Gebeine ruhen noch immer tief in den
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