Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
dort kam es, wie eben schon erwähnt, vor mehr als zehn Jahren. Damals verschwanden viele Kinder überall in der Stadt, und dieser Master Lycidas weilte dort. Gleichzeitig tauchte eine Frau namens Madame Snowhitepink in London auf. Es gab Gerüchte, dass sie etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben könnte.«
»Berichten die Chroniken der Tunnelstreicher auch davon?«
»Ja.«
Scarlet nickte, überlegte. »Snowhitepink.« Sie ließ den Namen auf der Zunge zergehen. »Snow, White, Pink.«
Ich musste lächeln, als sie die Stirn in Falten zog. »Der Gedanke kam mir auch, als ich es gelesen habe.«
»Miss White?«
»Christo Shakespeare, der in Archäologie bewandert ist, fand noch etwas anderes heraus. Eine gewisse Wilhelmina White tauchte in den Zwanzigerjahren in Karnak in Ägypten auf und besuchte die Grabungen Howard Carters im Tal der Könige. Sie wird in einer kurzen Randnotiz seines Berichts erwähnt. Die Beduinen beklagten auch dort das Verschwinden von Kindern. Seltsam, nicht wahr?«
»Wilhelmina White?«, sprach Jake den Namen ganz langsam aus.
Ich tat es ihm gleich. » Mina White.«
»Die Frau von John White?«, erinnerte sich Scarlet.
»Sie sagen es. Mina White, die Frau von John White, der auf Roanoke Island war, kurz bevor dort im Herbst die Kinder der Secotan vom Angesicht der Erde verschwanden.«
Stille.
»Kann es sein, dass wir es hier mit ein und derselben Person zu tun haben?«
»Es sind einfach zu viele Dinge, die miteinander verwoben sind. Eindeutig, Miss Scarlet, das sind keine Zufälle. Master Lycidas war John Milton, davor John Dee und dazwischen sogar John White. Ich sagte es ja, die Theorie der vielen Johns . Alle diese Personen standen zu all den verschiedenen Zeiten mit einem rätselhaften Kinderverschwinden in Verbindung. Und Mina White, die rätselhafte Frau, taucht ebenso in den meisten dieser Geschichten auf.«
Scarlet erinnerte sich an die Geschichten, die Queequeg erzählt hatte. Auch in ihnen gab es immer eine hübsche Fremde, die immer wieder als die Frau in Weiß bezeichnet wurde und die Kinder mit sich nahm.
»Wie ist denn das möglich?«
»Das ist das Leben«, sagte ich nur. »Alles ist möglich.«
Aber da war noch etwas.
Ein beunruhigender Gedanke. »Wenn wir annehmen, dass all diese Personen in Wirklichkeit jeweils ein und dieselbe Person waren, dann gibt es ein Muster, das sich bis in die Gegenwart zieht. Ein Muster, das wir langsam zu erkennen beginnen. Doch was bedeutet es für uns, wenn zum Beispiel die vielen Johns wirklich über all die Jahre all diese schrecklichen, geheimnisumwitterten Dinge getan haben? John Milton hegte Sympathien für den gefallenen Engel Lucifer. Er war für ihn das edle Sinnbild der freiheitsliebenden Kreatur, die dem Träumer entsagte.«
»Und die Malereien in den Höhlen von Croatoan zeigten Wesen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Engeln aufwiesen«, bemerkte Jake.
»John Milton«, sagte ich, »sah aus wie John White. Google
sei Dank. Es gibt keine Zufälle, Miss Scarlet. Die Ähnlichkeit der beiden Porträts ist verblüffend. Und John Dee, nun ja, auch er sieht John Milton und John White nicht unähnlich. Gewiss, wir haben es hier mit sehr alten Zeichnungen zu tun, aber dennoch lässt sich eine Ähnlichkeit nicht abstreiten. Und das bedeutet?«
Was?
Dass sie wirklich unumstößlich dieselbe Person waren?
»Was, wenn Lycidas wirklich der Lichtlord war?« Eine wilde Vermutung zu äußern kann manchmal recht hilfreich sein. »Milton hegte starke Sympathien für den gefallenen Engel. Lucifer ist bei ihm jemand, der seinen scharfen Verstand benutzt und die Ungerechtigkeiten in der Welt offenlegt, jemand, der erkennt, was der Träumer seiner willenlosen Schöpfung auferlegt hat. Der gefallene Engel wird bei Milton zu Unrecht aus dem Himmel vertrieben und ist ob des erlittenen Unrechts voller Rachegedanken und Wut.«
»Sie glauben daran, dass es Engel gibt?«, fragte Scarlet.
»Was für eine Frage.« Ich starrte sie an. »Natürlich gibt es Engel, irgendwo.« Ich hielt inne. »Nun ja, es gab sie. Doch seit einigen Jahren sind sie alle verschwunden. Sie haben, glaubt man den Chroniken der Tunnelstreicher, in London gelebt. Doch die neue Regentin der uralten Metropole von London hat die Engel vertrieben. All ihre Himmel sind verlassen.« Ich rieb mir müde die Augen. »Die Chroniken sind unvollständig, weil jemand große Teile entfernt hat. Es ist nicht einfach, etwas über diese Zeit zu erfahren.«
Scarlet wunderte
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