Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
durch dichtes Geäst nach unten fällt. »Ich bin Lady Solitaire.« Dann gefriert ihr Gesicht, das jung und hübsch ist, als sei die Zeit eine liebende Gefährtin, und wir alle sind uns bewusst, wie nah uns der Tod nun gekommen ist.
ZWISCHENSPIEL
AUS RIMA HAWTHORNES AUFZEICHNUNGEN
MÖCHTEST DU WISSEN, wie ich gestorben bin?
Es geschah so plötzlich, und als es passiert war, da dachte ich, es müsse ein böser Traum sein.
Die Zeit begann aufs Neue für mich zu ticken, erst langsam, dann schneller und pochend wie ein Herz, verborgen unter den Dielen eines Raums, den niemand zu betreten bereit sein wird, niemand außer mir.
So zähle ich die Tage, die mir noch bleiben, von eben jenem Augenblick an. Dessen eingedenk haben wir heute schon den dritten Tag. Ich war nie gut darin, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Aber ich muss es tun, denn es ist das Einzige, was mich vor der Verzweiflung bewahrt. Dies, meine kleine Leserin, die Du noch still in meinem Bauch ruhst, ist die Geschichte, die davon erzählt, wie ich gestorben bin.
Du wirst sie lesen, wenn Du groß bist, wenn alles, was sich gerade zuträgt, nicht mehr als ein Schatten in der matten Erinnerung einer alten Frau sein wird. Wir werden ein Leben führen, weit weg von der Stadt, in der ich meine Kindheit verbracht habe. Ein Leben, das so anders als das Leben in London sein wird. Ein Leben am anderen Ende der Welt. Ich träume von diesem Leben, weil ich den Mut finden muss, es zu beginnen. Nicht für mich, nein, für Dich, meine Kleine. Es ist Dein Leben, das ich vorbereiten muss.
Und wo fange ich an?
In London?
Der Stadt der Schornsteine am dunklen Fluss, der uralten Metropole?
Ich erinnere mich an die Straßen, an die Gerüche, an die Gesichter.
Jetzt, wo ich Tag für Tag nur das Salz des Meeres rieche, ganz besonders.
Es ist so eng hier auf dem Schiff, so beängstigend.
Es gibt so viele Dinge, die mich verzweifeln und wünschen lassen, dass ein Sturm dem Ganzen ein Ende bereiten würde. Doch weiß ich in diesen Momenten, dass ich kein Mitleid mir selbst gegenüber empfinden soll.
Nein, ich muss an Dich denken. Daran, dass Du in einer neuen Stadt das Licht der Welt erblicken wirst.
Ja, meine Kleine, ich denke an das, was einst war.
Ich erinnere mich an alles, so sehr, dass es mir jedes Mal die Tränen in die Augen treibt.
Vor allem aber erinnere ich mich an sein Gesicht.
Lapislazuli , so habe ich ihn oft genannt.
Manchmal, mein kleines Mädchen, manchmal, so sagt man, findet man die Liebe, die man selbst gesucht hat und die einen überraschend und wie von allein gefunden hat, und muss ihr so schnell wieder Lebewohl sagen, dass jener Moment des kurzen Glücks, der einem wie ein heller Stern gewesen ist, niemals richtig Vergangenheit zu werden vermag.
Lapislazuli.
Ich trage nicht einmal ein Bild von ihm bei mir. So überstürzt haben wir uns trennen müssen.
Und nun? Ich bin hier, und er lebt weiter in London. Niemals werden wir uns wiedersehen. Es ist vorbei. Die Wege haben sich getrennt. Jeder wird sein eigenes Leben haben.
»Was wirst du tun?«, fragte ich ihn, als wir in der Nacht vor
dem alten Raritätenladen standen und die Schneeflocken wie gefrorene Tränen ihre Tänze vollführten.
»Ich werde dich nie vergessen.« Ruhig war seine Stimme, doch ganz tief in ihr hörte ich den Tod wispern. Das Leben, das wir uns erhofft hatten, war zersplittert.
Die Scherben stecken mir noch immer im Herzen. Kein Mensch wird sie dort herausziehen können.
Ich war diejenige, die fortging.
Ich musste es tun.
Sonst wären wir beim Licht des anbrechenden Tages gestorben.
Ein guter Freund Deines Vaters namens Maurice Micklewhite geleitete mich zum dunklen Fluss, wo ein Boot auf mich wartete. Mit nichts als dem Koffer, der jetzt dort in der Ecke steht, bestieg ich das Boot. Maurice Micklewhite sah mir nach, bis es im Nebel, der auf den Wassern trieb, verschwunden war. Ich weinte still in der Dunkelheit, doch niemanden kümmerte, was ich tat. Der Bootsmann tat das, wofür er bezahlt worden war. Er brachte die anderen Passagiere und mich zu dem Dampfschiff, das auslaufen würde, sobald die Sonne am Himmel erschien.
Jetzt bin ich hier.
Auf der Hyperion .
Die See ist überall. Ihre kalten Finger berühren das Schiff, und ich weiß, dass der Ozean sich gähnend unter uns auftut. Seit zwei Tagen sind wir bereits auf See. Seit zwei Tagen hat sich die Welt so weit gedreht, dass ich nicht mehr an den Ort, den ich verlassen habe, zurückkehren kann. Ich
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