Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
eigentlich gar keine Lichtquelle sein durfte, da sich das gesamte Gebilde ja tief unter der Erde befand. Die kathedralenartige Kuppel war übersät mit Planeten und Sternen.
»Wo soll ich beginnen«, sinnierte ich nachdenklich und fragte: »Stört es Sie, wenn ich ein wenig herumlaufe?«
»Nein«, antwortete Scarlet ungeduldig.
»Nun denn, dann beginne ich wohl am besten dort, wo alles begonnen hat.«
»Gute Idee.«
»Es ist nicht sehr spannend«, warnte ich sie vor. »Die Wendigo ließen Christo Shakespeare, Buster und mich in Frieden. Sie hatten nur noch Augen für Sie, Miss Scarlet. Und als alles vorbei war, da schlossen wir erst einmal die Fenster, drehten die Heizung hoch und erholten uns von dem Schreck. Dann gingen wir durch die Straßen und suchten nach Ihnen. Wir suchten in der Subway und den stinkenden engen Tunneln von Midtown Below, doch wir fanden nichts!«
»Ich habe ihr inzwischen berichtet, was passiert war«, sagte Jake, der kurz vor Scarlet aus dem Spinnenschlaf erwacht war.
»Dann traf ich den Tunnelstreicher.«
»Sie kannten Queequeg?«
»Ja, in der Tat, ich kannte ihn. Er erwähnte die gestohlenen Kinder. Und als wir in die Bibliothek zurückkehrten, da hatte ich eine Eingebung. Natürlich hatten wir schon vorher gewusst, dass es zu diesen Vorfällen gekommen war, aber weder Christo noch ich selbst hatten sie mit den Eistoten in Verbindung gebracht. Da wir nicht wussten, wo Sie abgeblieben
waren, nutzten wir die Zeit und lasen erneut die alten Berichte und Bücher. Und da die Siedler, die auf Roanoke Island die erste Kolonie hier in Nordamerika gegründet hatten, aus England kamen, haben wir auch einige englische Schriften bemüht.« Ich lief im Kreis herum, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Und Erstaunliches zutage gefördert.«
»Schießen Sie los!« Scarlet setzte sich auf ein Treppengeländer aus Stein und ließ die Füße baumeln. Sie warf Jake einige Blicke zu, die überhaupt nicht mehr so fremd waren wie vorhin noch.
»Wir haben eine Verbindung gefunden«, sagte ich stolz, »zwischen dem, was in London geschehen ist, und dem, was sich auf Roanoke Island zugetragen hat. Es gab eine Reihe von Personen, deren Rolle in diesen Ereignissen sehr mysteriös ist.«
»Was hat das mit uns zu tun?«
»Keine Ahnung, aber ich habe da ein Gefühl, als könnten alle Spuren nach New York führen.«
Jake schlenderte ebenfalls im Raum umher.
»Beginnen wir mit John Dee«, sagte ich und ging während des Vortrags auf und ab, betrachtete das Muster auf dem Boden, während ich mir Mühe gab, von einer Marmorplatte auf die nächste zu treten, als sei es ein Kinderspiel. »John Dee war Wissenschaftler, ein Astrologe und Mystiker, er war ein bekann ter Okkultist und, nicht zuletzt, ein Alchemist. Er war ein enger Vertrauter von Henry VIII., und später dann, als Elizabeth I. Königin von England und Regentin der uralten Metropole von London wurde, da stand er ihr mit Rat und Tat zur Seite. Er hat einige bahnbrechende Werke seiner Zeit verfasst, nicht zuletzt zur okkulten Philosophie und Botanik. John Dee studierte, als er noch jung war, in Leuven und Brüssel.«
»Vielleicht in den Vierziger- oder Fünfzigerjahren des sechzehnten Jahrhunderts?«, fragte Scarlet, die sich an die Geschichten des Tunnelstreichers erinnerte.
»Ja«, erwiderte ich. »Das tat er. Und als er wieder daheim in London weilte, da entwickelte er völlig neuartige Instrumente zur Navigation auf See. Er schrieb an einem Werk namens Monas Hieroglyphica , einer kabbalistischen Darstellung seiner eigenen Sicht der Welt, in der er die Gleichheit aller Wesen der Schöpfung betonte.«
»Er akzeptierte demnach keine Hierarchie?«, fragte Jake.
»Nein, er vertrat die Meinung, dass alle Lebewesen selbst bestimmen sollten, was sie zu tun gedachten. Außerdem, das sollte ich anmerken, bezeichnete er Gott in fast allen seinen Schriften als den Träumer.«
Scarlet schaute auf.
»Nun, kommt Ihnen das bekannt vor?«
»Der Name ist in den letzten Stunden des Öfteren gefallen«, bekannte sie nachdenklich.
»Hm, sehe ich auch so«, grummelte Jake.
»John Dee reiste später nach Böhmen und Polen, wo er noch weitere Studien betrieb. Er lernte dort an den Universitäten einen gleichgesinnten Wissenschaftler kennen: Edward Kelly. Die beiden verstanden sich prächtig. Schließlich kehrten sie gemeinsam nach London zurück.« Ich holte tief Luft, sah mich um. Die Kopie der Grand Central Station war noch immer in stiller Starre
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