Die Vagabundin
wenn sie Kleidungsstücke ins Herrenhaus brachte oder dort abholte, war er nirgends zu sehen, auch wenn sie zuvor seine Stimme gehört hatte.
«Alsdann – komm jetzt!»
Franzi nahm sie beim Arm und zerrte sie mit sich ins Küchenhaus. Eine halbe Stunde später erreichten sie mit ihrem vollbepackten Maultierkarren das Seeufer, eine mit Weiden und Erlen bestandene Wiese, die zum Wasser hin in mannshohes Schilf überging. Dort, wo sie den Karren abstellten, war das Schilf abgeschlagen, und eine breite Bahn aus aufgeschüttetem Sand führte in den See hinaus. Der halbe Herrenhof tummelte sich an dieser Stelle bereits im Wasser, alles kreischte, spritzte und tobte.
«He, Franzi, Adam!», rief eines der Kammerfräulein, nur mit einem losen Hemd bekleidet, das in nassem Zustand mehr preisgab als verhüllte. «Aufi, ins Wasser! Es ist warm wie Saichbrüh.»
Franzi und der Küchenjunge ließen sich das nicht zweimal sagen und stürzten sich, halb nackt wie die anderen, unter Geschrei in die Fluten.
«Ich versorg das Maultier!», rief Eva ihnen nach, froh, eine Ausrede gefunden zu haben.
Nachdem sie das Tier ausgespannt und getränkt hatte, führte sie es in den Schatten, wo sie es an einem Baum festmachte. Ihr Blick schweifte über Ufer und See. Moritz von Ährenfels war nirgendwo zu entdecken, auch nicht drüben beim Pavillon, einem achteckigen, blauweiß gestrichenen Holzbau, wo sich die herrschaftliche Familie während der Badeausflüge aufzuhalten pflegte. Nur die Frauen und Kinder waren dort zu sehen.
Auch gut! Eva streifte Wams, Strümpfe und Schuhe ab und schlenderte barfuß über die Wiese, weg von der umtriebigenBadestelle. Das übermütige Kreischen wurde bald leiser, und nachdem sie ein Bachbett und einen Erlenbruch durchquert hatte, gelangte sie zu einem schmalen, sattgrünen Wiesenstreifen direkt am Ufer. Dort ließ sie sich ins Gras sinken und schloss die Augen. Die warme Sonne auf Gesicht und Beinen tat wohl. Bis zum Abend war es an diesem friedlichen Flecken wunderbar auszuhalten.
«Hier also steckst du!»
Eva schrak auf. Über ihr schob sich eine schlanke Gestalt vor das Sonnenlicht, die Stimme war ihr nur allzu vertraut.
«Ich hab dich überall gesucht. Es gibt bald eine Brotzeit. Kilian und ich haben kühles Bier mitgebracht.»
Moritz ließ sich neben ihr im Gras nieder. Zu Evas Befremden trug er nur seine alte Arbeitshose, die er bis über die Waden hochgekrempelt hatte, sonst nichts. Sie musste sich zwingen, den Blick von dem jungenhaft glatten und muskulösen Oberkörper abzuwenden, dessen Haut wie heller Kieselstein schimmerte.
«Verzeiht – ich muss eingeschlafen sein. Sollen wir gleich zurück?»
«Nein, so schnell schießen die Türken auch wieder nicht.» Obwohl er lachte, blieb sein Gesicht angespannt. «Ich will vorher noch ein Bad nehmen. Kommst du mit?»
«Ach – ich hab’s nicht so mit dem Baden. Ehrlich gesagt, kann ich gar nicht schwimmen.»
«Musst du auch nicht. Hier ist das Wasser ganz flach. Übrigens hast du mit dieser Stelle meinen Lieblingsplatz gefunden. Schon als Knabe bin ich hierher, wenn ich meine Ruh haben wollt. Also, was ist?»
Bei den letzten Worten war er aufgesprungen und begann, die Kordel an seiner Hose zu lösen. Vor Schreck blieb Eva fast das Herz stehen: Moritz von Ährenfels stand splitternackt vorihr in der Sonne, er war schön wie eine heidnische Götterfigur!
Sie brachte kein Wort heraus. Nicht dass ihr der Anblick nackter Burschen fremd gewesen wäre – schließlich war sie ja mit Geschwistern und einer Horde Gassenkinder aufgewachsen. Aber es war doch ganz etwas anderes, wenn es der Körper desjenigen war, an den man sein Herz verloren hatte.
So hockte sie da im Gras und starrte den Junker an, der plötzlich seinerseits verlegen wirkte wie ein kleiner Junge. Wortlos rannte er mit Riesensprüngen los und hechtete kopfüber ins Wasser.
Und blieb verschwunden. Dort, wo er eingetaucht war, begann sich die dunkle Oberfläche bereits wieder zu glätten, und noch immer keine Spur von ihm.
«Junker Moritz! Wo seid Ihr?»
Bis zu den Knien im Wasser, tappte Eva hin und her, und mit jedem Atemzug wuchs ihre Verzweiflung. Was, wenn Moritz mit dem Kopf gegen einen Stein geprallt war? Wenn er bewusstlos auf dem Seegrund trieb? Wie lange sollte sie noch warten, bevor sie nach Hilfe rufen musste?
Immer tiefer hatte sie sich hineingewagt, das Wasser stand ihr schon bis zur Hüfte, als vor ihr der glänzende Körper des Junkers in die Höhe schnellte, um
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