Die Vagabundin
überzuziehen und damit ein zweites Mal ihr Leben als der Schneidergesell Adam in die Hand zu nehmen. Sie zerrte ihr Gepäck vom Karren der Zeitlerin und schlug sich in ein Tannenwäldchen, das sich wie eine schwarze Zunge in die Heidelandschaft schob. Entschlossenen Schrittes und mit zusammengebissenen Zähnen schritt sie bergwärts voran, bis sie eine verlassene Köhlerhütte erreichte. Dort vollzog sie ihre erneute Verwandlung, ohne Zögern zunächst und ohne über ihre weitere Zukunft nachzudenken. Die halbhohen Lederschuhe waren natürlich zu großfür ihre schmalen Füße, sie würde sie mit Lumpen ausstopfen müssen. Der Rest passte so einigermaßen, auch wenn die hellblaue Strumpfhose mit den breiten knallroten Strumpfbändern vollkommen lächerlich aussah und farblich so gar nicht mit der gelb-grün gestreiften kurzen Pluderhose zusammenging. Ebenso lächerlich wirkte der hohe braune Filzhut mit seinen abgefressenen Federn. Richtig hübsch war eigentlich nur das langärmlige dunkelblaue Wams mit den Holzknöpfen. Der weiche Wollstoff würde an kühlen Tagen gut warm geben, und die gepolsterten Schultern verliehen ihr eine überaus männliche Gestalt.
Sorgfältig legte sie ihre Frauenkleidung zusammen und wickelte sie in dem wollenen Schultertuch zu einem Bündel. Im nächsten Marktflecken würde sie das alles zu Geld machen. Und zwar zu gutem Geld! Sie stieß ein raues Lachen aus. Zwei Gulden wollte sie dafür schon herausschlagen. Wenigstens etwas sollten diese Judasbrüder, diese Bluthunde von Ährenfels, für ihren widerwärtigen Frevel bezahlen!
Zuletzt zog sie aus dem Werkzeugbeutel die Schere heraus. Kurz und schnurgerade schnitt sie ihr Haar, ganz wie es neuerdings in den Städten Mode war. Als sie damit fertig war, holte sie tief Luft. Ein plötzlicher Schwindel überkam sie. Sie ließ die Schere sinken und starrte auf die Haarbüschel zu ihren Füßen. Ein fescher junger Handwerksbursche war sie nun wieder, das wusste sie auch ohne Spiegel. War wieder ein Kerl, der auf eigenen Beinen stand. O nein, sie brauchte weder einen Geliebten noch einen Beschützer, weder Eltern noch Geschwister – sie brauchte überhaupt keinen Menschen. Und einen Mann schon gar nicht!
Die Wut überfiel sie ganz plötzlich und ließ sie mit der Faust gegen die Bretter der Köhlerhütte schlagen. Laut fluchte sie, während sie ein zweites, ein drittes Mal dagegenschlug, bis sieschließlich mit beiden Fäusten gegen das Holz trommelte, dass es schmerzte. Warum musste Gott sie so hart prüfen? Endlich einmal hatte das Schicksal ihr seine sonnigste Seite gezeigt, hatte sich eine Aussicht aufgetan, die schöner nicht hätte sein können: die Aussicht auf ein unfassbares Glück, auf eine Liebe, wie man sie gemeinhin nur aus Liedern kannte. Aber ihr war einfach kein Glück vergönnt, nicht mal das kleinste Quäntchen! Stattdessen hatte das Schicksal ein bitterböses Schelmenspiel mit ihr getrieben. Hatte ihr etwas vorgegaukelt hinter falscher Maske, wie ein begnadeter Possenreißer auf dem Jahrmarkt, nur um sie am Ende mit Hohngelächter in die schmutzige Welt der Wirklichkeit zurückzuschleudern. Und in dieser Welt – dumpf schlug ihre Stirn gegen die Hüttenwand, wieder und wieder – war sie nichts als die kleine, kreuzdumme Eva Barbiererin aus Glatz, die sich, genau wie ihre ebenso dumme Schwester, vom erstbesten Mannsbild das Herz hatte stehlen lassen. Die sich hatte verführen lassen, in einer so unglaublichen Einfalt, dass es bestraft gehörte.
Die Tränen, die ihr über die Wangen liefen, vermischten sich mit dem Blut ihrer aufgeschlagenen Stirn, als sie schließlich zu Boden sank. Dort krümmte sie sich zusammen, das Gesicht in den Händen verborgen, und gab sich ihrer Erschöpfung hin. Was für eine Erlösung wäre es jetzt, einfach sterben zu dürfen!
33
Sie erwachte im Morgengrauen von einem Rascheln, dicht vor ihrer Nase. Als sie den Kopf hob, blickte sie in die großen, runden Augen eines jungen Rehbocks. Ruhig und erstaunt betrachtete das Tier sie, dann wandte es sich ab und trabte elegant und schwerelos davon, ohne Angst und ohne Eile.
Verwirrt sah Eva ihm nach. Plötzlich wusste sie, es war ihr Los, immer wieder auf die Beine zu kommen. Hatte sich das nicht schon zahllose Male bewiesen? Solange sie nur bei klarem Verstand blieb und die Stärken und Fähigkeiten nutzte, die Gott ihr geschenkt hatte, würde ihr auch das Schicksal gnädig bleiben. Wie hatte sie sich nur solch damischen Hirngespinsten, solch
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