Die Vagabundin
Schaumeister die fertige Ware, sondern der Kaufmann, und der konnte damit machen, was ihm beliebte. Selbst die Kontrolle über Anstand und Sitte war den Zünften verlorengegangen: In Regensburg durfte ein Geselle entgegen dem alten Brauch heiraten, ohne seinen Meister gemacht zu haben.
All das stellte sich Eva als eine Gelegenheit dar, die sie beim Schopf packen wollte. Ungestört und unbehelligt wollte sie die nächsten Monate arbeiten, auf eigene Hand und mit eigenem Rauch – in den eigenen vier Wänden also. Natürlich wusste sie auch, dass dabei manch einer die Seele dem Teufel anvertraute:In immer kürzerer Zeit sollte man immer mehr Warenstücke liefern, und am Ende wurde schlecht gelöhnt. Und wagte einer, das Maul aufzumachen und sich zu beschweren, wurde ihm der Auftrag ganz schnell entzogen. Die Verleger hatten nämlich freie Auswahl bei dem gewaltigen Zustrom von jungen Männern und ledigen Frauen aus den Dörfern rundum. Aber die meisten der Burschen hatten nichts gelernt, die Frauen konnten allenfalls ein wenig nähen und spinnen. Kaum einer konnte sich dessen rühmen, was Eva anzubieten hatte: das Zuschneiden kostbarster Stoffe. Daran wagte sich schon allein deshalb keiner, weil der Verschnitt vom Stücklohn abgezogen wurde.
Heute Mittag noch, dachte sie, während sie ihre Habseligkeiten in der Kleiderkiste ihres neuen Zuhauses verstaute, werde ich dem Bruder des Spitalmeisters einen Besuch abstatten. Seinetwegen war sie überhaupt erst auf diesen Gedanken gekommen. Wenige Tage vor Evas Abschied aus dem Spital war das gewesen, als dieser Bruder, ein Regensburger Tuchhändler namens Alfons Winklmair, zu Besuch im Pfründnerhaus weilte und sich vor Evas Augen den seidenen Puffärmel am Türriegel aufgerissen hatte. Laut geflucht hatte er, und Eva hatte ihm umgehend angeboten, den Schaden zu beheben. Während der gute Mann im kurzen Hemdchen mit seinem Bruder im Spitalmeisterhaus bei einem Krug Roten wartete, hatte sich Eva an die Arbeit gemacht, die gar nicht so leicht zu bewerkstelligen war: Der Riss war zwar klein und unter der Achselhöhle verborgen, dafür aber alles andere als glatt. Sie würde ein Stückchen Stoff herausschneiden müssen, bevor sie ihre Naht setzte, und dasselbe zudem am anderen Ärmel, damit sie am Ende gleich aussahen.
Nach zwei Stunden hatte sie es geschafft und war höchst zufrieden mit dem Ergebnis. Nur – was würde Alfons Winklmair dazu sagen, dass sie ihm auch den zweiten Ärmel aufgeschnittenhatte, ohne ihn zu fragen? «Sein Bruder wird dich ins Spitalsloch stecken, du dummer Junge!», hatte Kathrin Barreiterin immerzu gejammert. Stattdessen hatte der Kaufmann wortlos genickt und ihr anerkennend auf die Schulter geschlagen. Das war nicht viel, aber immerhin genug, um in Eva die Hoffnung zu wecken, mit seiner Hilfe an einen ersten Auftrag zu kommen.
Spazierte man durch das Gewirr der Regensburger Gassen, präsentierte sich die freie Reichsstadt bei weitem nicht mehr so glanzvoll wie aus der Ferne gesehen. Die Pracht bröckelte allerorten: Auf den einst kunstvoll gepflasterten Plätzen stand der Schlamm in den Löchern, von den zierlichen Giebelhäusern, ja selbst von den Patrizierburgen mit ihren himmelwärts strebenden Türmen blätterten Farbe und Putz. Der Dom Sankt Peter zeigte am augenscheinlichsten, dass die Blütezeit dieser Stadt wohl endgültig vorüber war: Als gewaltiger Klotz mit zwei halbfertigen Türmen versuchte er sich mit letzter Kraft, wie es schien, über die anderen Gotteshäuser zu erheben. Seit Jahrzehnten nun schon fehlte das Geld, um weiterzubauen.
Die Türkeneinfälle, die Entdeckung der Neuen Welt und zuletzt die heftigen Querelen mit den Baiernherzögen hatten Regensburg abseits des Welthandels gedrängt, und für die hiesigen Handelsherren schien das goldene Zeitalter unwiderruflich dahin zu sein. Das Spital hatte inzwischen mehr Besitzungen als die Stadt selbst: Nur ein schmaler Streifen um die Stadtmauer war Regensburg als Burgmeile geblieben – im Süden ein paar unbewohnte Wiesen- und Feldstücke, im Norden die Wöhrd-Inseln. Der Rest war an die Baiern gegangen.
Solchermaßen hatte Eva jedenfalls den Tuchhändler Alfons Winklmair jammern hören. Und dass man vor fünfzig Jahren die Juden zum Teufel gejagt habe, habe rein gar nichts genutzt, im Gegenteil, ihr Geld fehle nun an allen Ecken und Enden.Alles sei dahin, nur wenn der Kaiser hier seinen Reichstag abhalte, erwache die Stadt zu neuem, zu altem Glanz.
In ehrerbietiger
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