Die Vagabundin
Ohr.
«Blödsinn. Was soll uns schon geschehen, an solch einem herrlichen Wintertag! Es ist grad so, als würde sich der Herrgott mit uns freuen.»
«Hör zu, Eva, ich muss dir ein Geheimnis verraten, ein ganz unglaubliches. In der Heiligen Nacht hab ich gehört, was unser Oheim zur Muhme gesagt hat. Ich schwör dir, ich wollt nicht lauschen, aber die Tür war halt nicht verschlossen. Ich wär auch weitergegangen, aber da hatt ich meinen Namen gehört.»
«Jetzt red schon.»
Niklas holte tief Luft. «Endress Wolff will mich an Sohnes statt annehmen. Ich soll einmal sein Erbe und Nachfolger werden!»
«Das ist – das ist wunderbar. Wirklich, Igelchen, ich freu mich für dich.»
Jetzt war es Eva, die so tief Luft holte, dass ihr die eisige Kälte in die Lungen stach. Für ihren Bruder hatte sich also alles zum Guten gewendet, eine glänzende Zukunft tat sich ihm auf, voller Sicherheit und Wohlstand.
Ihr Blick schweifte erst nach Norden über die Hügel des Vorwalds, hinter denen sich blau und mächtig die Berge erhoben, dann gegen Süden über die schier endlose Ebene des fruchtbaren Gäubodens. Dazwischen schlängelte sich das glitzernde Band der Donau verheißungsvoll in Richtung Horizont. Keine Mauern, keine Tore stellten sich dem Auge in den Weg, alles war Weite und Klarheit, Himmel wie Landschaft. Alles schien unendlich.
«Gehn wir zurück», sagte sie schließlich mit rauer Stimme. «Unsere Muhme macht sich gewiss schon Sorgen.»
Der Winter blieb kalt und frostig, und als er Ende März den ersten milden Frühlingstagen weichen musste, stand Evas Entschluss fest: Sie würde weiterziehen, und mit einem Mal wusste sie auch, wie sie halbwegs gefahrlos durch die Lande kam. Mochte es ihr auch noch so schwerfallen, Niklas in der Obhut der Verwandten zu lassen – nichts hielt sie mehr im Haus ihresOheims, dem Frauen nichts anderes waren als Arbeitstiere oder schmückendes Beiwerk der Mannsbilder. Sie konnte nur hoffen und beten, dass Niklas von dieser Art nichts annehmen würde.
21
«Weißt du überhaupt, wohin du willst?», fragte Niklas mit erstickter Stimme.
Sie hatten eben das Obere Tor durchquert, von wo es nach Regensburg und weiter nach Westen ging, und schlugen den Fußweg zur großen Handelsstraße ein. Eva blieb stehen. Über alles Mögliche hatte sie in den letzten Tagen nachgedacht, auch wie sie Josefina vielleicht doch noch ausfindig machen könnte – nur darüber nicht. Aber Niklas hatte recht: Der Mensch brauchte ein Ziel, sonst war er nur ein vertrocknetes Blatt im Wind.
«Ich will nach Straßburg zu unserem Bruder Adam.»
«Spinnst jetzt? Weißt du, wie weit das ist? Die Fuhrleute brauchen dafür drei bis vier Wochen!»
«Ach, Niklas, ich hab doch alle Zeit der Welt. Und jetzt geh zurück. Sonst wird der Oheim nur noch zorniger.»
«Das ist mir gleich.»
Wie in alten Zeiten, als Niklas noch der schmächtige Knabe mit den ewig kurzgeschorenen Haaren gewesen war, schob er trotzig die Unterlippe vor, und der Anblick versetzte Eva einen Stich. Eines Tages, das schwor sie sich, würde sie ihn besuchen kommen. Es durfte kein Abschied auf immer sein!
In diesem Moment begann es aus dem dunklen Gewölk über ihnen herunterzuprasseln. Eva nahm ihren Bruder bei der Hand und rannte mit ihm unter das Vordach eines nahen Schuppens. Zu ihren Füßen bildeten sich die ersten Pfützen.
«Bitte, Eva, bleib hier.» Niklas wischte sich mit dem Ärmel über das nasse Gesicht. «Ich werd mit dem Oheim reden, dass du nicht mehr die ganze schwere Arbeit im Haus allein machen musst und er diese falsche Schlange Agatha vor die Tür setzt. Glaub mir, ich werd ihn überreden können!»
Sie schüttelte den Kopf. «Es ist nicht nur wegen Agatha oder weil mir das Kreuz wehtut vom Wasser- und Holzschleppen. Da ist so was in mir, das ich nicht recht erklären kann. Eine Unruhe, so eine Unrast – als würde mir ein Stück in der Seele fehlen, der Teil der Seele, mit dem andre Menschen Wurzeln schlagen. Verstehst du, was ich meine?»
«Nein, kein bisschen. Hast du vergessen, wie schrecklich es manchmal war auf der Straße? Wie gefährlich? Wie oft wir gefroren und gehungert haben? Wie wir nass bis auf die Haut wurden bei solch einem Scheißwetter wie heute?»
«Hunger hattest vor allem du, und der Regen hört gleich wieder auf, das ist nur ein Aprilschauer.» Eva versuchte zu lachen. «Nach allem, was wir erlebt haben, weiß ich heute besser denn je, wo Gefahren lauern und wo nicht.»
«Ach ja?» Jetzt wurde
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