Die Vampire
einherstolzieren können, welche
die Aufschrift BERAUBT UND ERMORDET MICH trugen. Rote Augen glommen hinter zerbrochenen Fensterscheiben. Kinder mit Barthaaren wie eine Ratte kauerten in Türeingängen und warteten darauf, sich um den Abfall größerer Raubtiere schlagen zu können. Je tiefer sie in dieses verrufene Viertel vordrangen, desto dichter wurde das Menschengewühl. Unwillkürlich musste sie an Geier denken. Sie befanden sich nicht mehr in England, sondern in einem Dschungel. Doch nicht die Orte waren böse, versuchte sie sich einzureden: sondern was die Menschen daraus machten. Im Dunkel lachte etwas, und Geneviève schreckte zurück. Charles beruhigte sie und blickte sich, auf seinen Stock gestützt, um, als genieße er die frische Luft in Hampton Court.
Verkrümmte, bucklige Gestalten lauerten in Hinterhöfen. Man konnte ihren Hass förmlich spüren. Im Jago endeten die schlimmsten Fälle: Neugeborene, deren Gestalt so sehr verändert war, dass sie nichts Menschliches mehr an sich hatten, derart niederträchtige Verbrecher, dass selbst andere Übeltäter ihre Gegenwart nicht dulden mochten. Eine Fahne der Kreuzfahrer Christi, deren Kreuz wie mit Blut gefärbt schien, hing aus einem Fenster. John Jagos Mission befand sich in dieser Gegend, wohin kaum ein Polizist je seine Schritte setzte. Niemand kannte den wahren Namen des komischen Heiligen.
»Was suchen wir?«, fragte Geneviève halblaut.
»Einen Chinesen.«
Ihr Herz machte einen Satz.
»Nein«, besänftigte er sie, »nicht den Chinesen. In diesem Bezirk genügt vermutlich der erstbeste Chinese.«
Ein stämmiger Neugeborener, über dessen nackter Brust sich Hosenträger spannten, trat aus dem Schatten einer Mauer, baute sich vor ihnen auf und blickte auf Charles herab. Sein Grinsen entblößte gelbe Fangzähne. Seine Arme waren mit Totenschädeln und Fledermäusen tätowiert. Nachdem Charles es vor ihren eigenen
Augen mit Liz Stride aufgenommen hatte, war Geneviève gewiss, dass er den Vampir mit silberner Klinge oder Kugel leicht zu bezwingen vermochte. Er würde sich jedoch nicht allzu lange halten können, wenn das gute Dutzend Kumpane des Raubeins, das indes umherstand und sich mit schmutzigen Fingernägeln in den Zähnen stocherte, ihm zu Hilfe eilte.
»Nun denn«, begann Charles, seine Worte in die Länge ziehend wie ein regelrechter Narr aus Mayfair, »führen Sie mich zur nächsten Opiumhöhle, guter Mann. Je übler, desto besser, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Zwischen Charles’ Fingern blitzte etwas auf. Eine Münze. Sie verschwand erst in der Faust des Raubeins und dann in seinem Mund. Er biss den Shilling entzwei und spuckte die beiden Hälften aus. Sie waren kaum aufs Pflaster geklirrt, als sich auch schon ein Pulk von Kindern um sie prügelte. Der Mann blickte Charles unverwandt an, suchte seine neu gewonnene Macht der Bezauberung über ihn auszuüben. Nach einer kleinen Weile - Geneviève wurde immer mulmiger zumute - wandte er sich ächzend fort. Charles hatte seine Prüfung bestanden. Mit einem Nicken deutete das Raubein auf einen nahe gelegenen Türeingang und latschte davon.
Vor dem Bogen, durch den man auf einen geschlossenen Hinterhof gelangte, hing an einer Schnur eine schmierige graue Decke. Eine schlanke Hand zog den behelfsmäßigen Vorhang beiseite, und eine warme Wolke parfümierten Rauchs wehte sie aus der Öffnung an. Wie Glühwürmchen erhellten Opiumpfeifen hohlwangige Gesichter. Ein warmblütiger Matrose mit schorfbedecktem Hals und leerem Blick wankte auf die Straße hinaus; seine Heuer war in traumseligem Rauch aufgegangen. Er konnte von Glück sagen, wenn er das Jago mitsamt seinen Seemannsstiefeln verlassen durfte.
»Da wären wir«, sagte Charles.
»Was machen wir hier?«, fragte sie ihn.
»Am Netz rütteln, um die Aufmerksamkeit der Spinne auf uns zu lenken.«
»Wie schön.«
Eine junge Chinesin, zartgliedrig und neugeboren, kam aus dem Hof hervor. Die Raubeine hegten offenbar große Achtung vor ihr, was einiges besagen wollte. Sie trug einen blauen Pyjama und trippelte in Seidenpantoffeln über das schmutzige Pflaster. Ihre Haut schimmerte wie feines Porzellan. Ein fest geflochtener, schwarzglänzender Haarzopf reichte ihr bis zu den Knien. Charles verbeugte sich vor ihr, und sie erwiderte seinen Gruß, die Arme zum Willkommen ausgestreckt.
»Charles Beauregard vom Diogenes-Club lässt sich Eurem Gebieter, dem Herrn der seltsamen Tode, bestens empfehlen.«
Das Mädchen schwieg. Geneviève
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