Die Vampire
Ohnmacht gesunken. Doch mit der toten Penelope hatte sie nichts mehr gemein.
Sie verspürte brennenden Durst. Der Geschmack von Arts Blut erfüllte ihren Mund. Vergangene Nacht hatte sie ihn bitter und salzig gefunden. Nun aber war er süß und köstlich. Und brotnötig. Was nun? Was tun?
Sie wusste nicht, ob sie es fürchterlich geschickt anfing. Doch wenn selbst Kate Reed, die kaum imstande war, Tee aus einer Kanne zu gießen, ohne zuvor Mrs. Beeton zu befragen, es zum erfolgreichen Vampir zu bringen vermochte, würde sich Penelope, die Eroberin, von den Verwicklungen erst recht nicht entmutigen lassen.
In der Halle entdeckte sie einen Theatermantel mit rotem Seidenfutter. Er schien ihr nicht allzu schwer. Sie versuchte, einen von Arts Zylinderhüten aufzusetzen, doch er rutschte ihr bis auf die Ohren und nahm ihr die Sicht. Die einzige Kopfbedeckung an Arts Kleiderständer, die ihren Zwecken diente, war eine karierte Stoffmütze mit Ohrenklappen. Zwar passte sie wohl kaum zu der Ausstattung, die sie sich angeeignet hatte, würde jedoch fürs Erste genügen müssen. Wenigstens konnte sie auf diese Weise ihr Haar unter der Mütze verstecken. Manche Vampirmädchen schnitten sich das Haar kurz wie ein Mann. Was ihr durchaus bedenkenswert erschien …
… draußen ging die Sonne auf. Sie hielt es für das Beste, den Heimweg anzutreten und sich tags im Haus zur Ruhe zu legen. Kate hatte ihr erzählt, die Sonne könne einem Neugeborenen schweres Leid zufügen. Vermutlich würde sie sich in die ärgerliche und überaus erniedrigende Position begeben müssen, Kate aufzusuchen und sie um Rat in allerlei unvorhersehbaren Angelegenheiten zu bitten.
Als sie das Haus verließ, herrschte dichter Frühnebel. Gestern noch hätte sie die andere Seite des Cadogan Square beim besten Willen nicht erspähen können. Nun vermochte sie alles etwas leichter zu erkennen, obschon sie im Dunkeln besser sehen konnte als im Nebel. Wenn sie zu den dunstigen Wolken hinaufblickte, welche die Sonne verfinsterten, taten ihr die Augen weh. Sie zog sich die Mütze in die Stirn, damit der Schirm ihr Gesicht beschattete.
»Missy, Missy«, ertönte eine Stimme. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau kam aus dem Nebel auf sie zu.
Wieder verspürte sie den Durst - den roten Durst, wie man ihn gemeinhin nannte -, ihr Mund war wie ausgetrocknet, und ihre Zähne prickelten. Ein Gefühl, das sich in nichts mit jenen Bedürfnissen vergleichen ließ, die sie als warmblütige Frau empfunden hatte. Ein überwältigendes Verlangen, das dem Bedürfnis zu atmen gleichkam.
»Missy …«
Vor ihr stand eine alte Frau mit ausgestreckter Hand. Sie trug einen schäbigen Kiepenhut und ein zerlumptes Halstuch. »Haben Sie Durst, Missy?« Die Frau grinste. Ein stinkender Pesthauch wehte aus ihrem zahnlückigen Schlund. Penelope roch die dicke Dreckkruste, mit der sie überzogen war. Wenn Fagin eine Witwe hatte, so stand diese nun vor ihr.
»Für einen Sixpence können Sie sich nach Herzenslust betrinken. An einer von meinen beiden Hübschen.«
Die Frau hob ein Bündel auf. Es war ein kleines Mädchen, Gesicht und Haar starrten vor Schmutz. Das Mädchen war blass und, gleich einer Mumie, in einen langen Schal gewickelt. Als die Frau den Schal fortnahm, kam ein dünner, über und über mit Schorf bedeckter Hals zum Vorschein. »Nur einen Sixpence, Missy.«
Mit scharfen Krallen klaubte die Frau den Schorf vom Hals des Mädchens. Winzige Blutstropfen quollen hervor. Das Kind gab keinen Laut von sich. Der Blutgeruch stieg Penelope in die Nase. Es war ein pikanter, durchdringender Duft. Sie dürstete.
Die Frau reichte ihr das kleine Mädchen. Penelope zögerte einen Moment. Zu Lebzeiten war sie jeder vertraulichen Berührung aus dem Weg gegangen, ganz besonders der Berührung durch Kinder. Nach Pamelas Tod hatte sie geschworen, sich niemals der Wollust eines Mannes hinzugeben, niemals Kinder zu gebären. Obgleich selbst ihr das schließlich etwas einfältig vorkam, bereitete der Gedanke an die Hochzeitsnacht ihr wenig Freude. Ihre Verlobung hatte mit derlei Dingen nichts zu schaffen. Was sie jedoch mit Art getrieben hatte, war mehr als nur ein Aderlass, mehr als nur ein wirksames Mittel zur Verwandlung. Es hatte etwas Fleischliches an sich, abstoßend und aufregend in einem. Nun war es ihr angenehm, ja wünschenswert sogar.
»Ein Sixpence«, wiederholte die Frau, und ihre Stimme verhallte, während Penelope gebannt auf den Hals des Kindes starrte.
Art
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