Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
Vom Netzwerk:
der Blutsauger, der seine Tochter verwandelt, seine Frau geschändet, seine Beförderung vereitelt, seinen Freund getötet hatte. Zwar war ihr seine Vergangenheit gänzlich unbekannt, doch nahm sie an, dass seine Theorie auf persönlichen Erfahrungen beruhte, dass er dem Mörder dieses Motiv nur unterstellte, weil er es nachempfinden konnte.
    Abberline hatte zunächst jene Constables befragt, die als Erste am Schauplatz des Verbrechens eingetroffen waren, bevor er selbst den Tatort inspizierte. Auch auf den zweiten Blick hatte er nichts von Belang zu entdecken vermocht und zögerte sogar, sich zu der Aussage hinreißen zu lassen, Lulu Schön sei wahrhaftig ein weiteres Opfer des sogenannten Whitechapel-Mörders. Auf ihrem kurzen Gang von Toynbee Hall waren sie zahllosen Zeitungsjungen begegnet, die aus vollem Hals die neuesten Erkenntnisse in Sachen Silver Knife verkündet hatten; den amtlichen Verlautbarungen zufolge waren jedoch nur die Chapman und die Nichols nachweislich durch dieselbe Hand ums Leben gekommen. Bei einigen anderen ungelösten Fällen - darunter die Tabram, die Smith und nun auch noch die Sache Lulu Schön -, zwischen denen
die Presse einen Zusammenhang herstellte, konnte es sich ebenso gut um gänzlich andere Verbrechen handeln. Silver Knife verfügte schwerlich über das Patent auf Mord, schon gar nicht in dieser Gegend.
    Lestrade und Abberline gingen davon, sich zu beraten. Wann immer er in die Verlegenheit geriet, einem Vampir die Hand schütteln zu müssen, begann Abberline - wahrscheinlich unbewusst - ausladend mit den Armen zu fuchteln. Er steckte sich eine Pfeife an und lauschte, während Lestrade einen Streitpunkt nach dem anderen an den Fingern abzählte. Es stand durchaus zu erwarten, dass es zwischen Abberline, dem Leiter der Abteilung H des CID, und Lestrade früher oder später zu einem Machtkampf kommen würde. Man munkelte, Swanson habe den Mann von Scotland Yard eingeschleust, um im Auftrag Dr. Andersons die Schutzpolizei auszuspionieren, mit der Weisung, einzuschreiten, sowie es Lorbeeren zu ernten gab, jedoch in der Anonymität zu verbleiben, wenn es an Resultaten mangelte. Anderson, Swanson und Lestrade waren der Irländer, der Schotte und der Engländer aus den Varieté-Geschichten, wie Weedon Grossmith sie in ›Punch‹ gezeichnet hatte, die zum Missvergnügen eines Constables, der Fred Abberline recht ähnlich sah, am Tatort umherschlenderten und Spuren verwischten. Geneviève überlegte, wie sie - schwerlich ein Inbegriff des französischen Mädchens aus diesen Geschichten - ins Bild passte. Hegte Lestrade vielleicht die Absicht, sie als Druckmittel zu missbrauchen?
    Sie blickte sich in dem geschäftigen Empfangsraum um. Fortwährend wurden Türen aufgestoßen, Nebelschwaden strömten herein, und die Türen fielen wieder zu. Draußen standen mehrere Abordnungen interessierter Parteien. Ein mit flatterndem St.-Georgs-Kreuz bewehrtes Heilsarmee-Korps leistete einem Prediger der Kreuzfahrer Christi Beistand, der Gott anrief, wider die Vampire dieser Welt Gerechtigkeit zu üben, und Silver Knife als
das wahre Werkzeug Jesu pries. Ein paar berufsmäßige Aufwiegler, Langhaarige in zerrissenen Hosen von dieser oder jener sozialistischen oder republikanischen Parteifarbe, hänselten den Hyde-Park-Torquemada, und ein Pulk grell geschminkter Vampirfrauen, die teure Küsse und eine schnelle Verwandlung feilboten, verspottete ihn. Viele Neugeborene bezahlten, um zum Spross einer dahergelaufenen Straßenschlunze zu werden, erkauften sich um die Kleinigkeit von einem Shilling ewiges Leben.
    »Wer ist denn dieser komische Heilige?«, erkundigte sich Geneviève.
    Thick warf einen Blick zu dem Pöbel hinaus und stöhnte. »Ein fürchterlicher Quälgeist, Miss. John Jago mit Namen, so nennt er sich jedenfalls.«
    Das Jago war ein berüchtigtes Elendsviertel am oberen Ende der Brick Lane, ein verbrecherischer Dschungel von winzigen Gässchen und übervölkerten Zimmern. Ohne Zweifel das übelste Massenquartier im gesamten East End.
    »Da kommt er wenigstens her. Er redet wie der Teufel, bis es den Leuten nur allzu recht und billig scheint, die nächstbeste Schlampe mit einem Pflock zu spießen. Er ist das ganze Jahr lang bei uns ein und aus gegangen wegen seiner Hetztiraden, Trunkenheit, Störung der öffentlichen Ordnung und der einen oder anderen Handgreiflichkeit.«
    Jago war ein wildäugiger Eiferer, und doch lauschte ein Gutteil der Menge gebannt seinen Worten. Vor wenigen Jahren noch

Weitere Kostenlose Bücher