Die Vampire
Eddowes fehlte etwas, doch wollte sie aus lauter Furcht und Aberglaube gar nicht wissen, was es war.
»Melde dich heut Abend in der Hall. Frag nach Dr. Seward. Er weiß besser Bescheid als die Ärzte im Asyl. Er kann dir helfen. Das verspreche ich dir.«
»Ach, ich werd schon wieder, Liebchen.«
»Nicht ohne ärztliche Hilfe, Cathy.«
Mit einem gekünstelten Lachen wankte Cathy auf die Straße hinaus. Da ihr ein Stiefelabsatz fehlte, waren ihre Schritte nur mehr ein burleskes Humpeln. Hocherhobenen Hauptes warf sie sich den Schal um, als sei er die Pelzstola einer Herzogin, und wackelte herausfordernd an Jagos Kreuzfahrern Christi vorüber, bis sie im Nebel verschwand.
»Die hat höchstens noch ein Jahr zu leben«, bemerkte der Diensthabende, ein Neugeborener, dessen Gesicht ein rüsselartiger Auswuchs zierte.
»Das werden wir ja sehen«, sagte Geneviève.
5
Der Diogenes-Club
B eauregard wurde in das schmucklose Foyer unweit der Pall Mall vorgelassen. Durch die Tür dieser Institution kamen und gingen die weltflüchtigsten und ungeselligsten Männer der Stadt. In ihrem Mitgliederverzeichnis fand sich die größte Ansammlung von Exzentrikern, Misanthropen, grotesken Gestalten und regelrechten Geisteskranken außerhalb des Oberhauses. Er reichte dem Diener Handschuhe, Hut und Stock, und dieser reihte sie wortlos an dem in einer Nische stehenden Kleiderständer auf. Als er ihm ehrerbietig den Umhang abnahm, stellte der Diener geübten Blickes fest, dass Beauregard darunter weder Degen noch Revolver trug.
Obgleich es auf den ersten Blick der Bequemlichkeit jener Sorte Mensch diente, die sehnlichst in vermögender Abgesondertheit von ihren Zeitgenossen zu leben wünscht, handelte es sich bei diesem unscheinbaren, am Rande von Whitehall gelegenen établissement in Wahrheit doch um ungleich mehr als das. Absolute Stille war oberstes Gebot; ein Verstoß gegen diese Regel, und sei es nur ein halblaut dahingemurmelter Gedanke beim Lösen eines Kreuzworträtsels, wurde unbarmherzig mit Ausschluss geahndet, ohne Rückerstattung der Jahresgebühr. Ein leises Knarren minderwertigen Stiefelleders genügte, die Mitgliedschaft des Übeltäters für die Dauer von fünf Jahren auszusetzen. Manche Angehörige des Clubs, die seit sechzig Jahren einander vom Aussehen kannten, waren gänzlich unwissend, was die Identität ihres Gegenübers anbetraf. All dies war selbstverständlich widersinnig und absurd. Beauregard versuchte sich vorzustellen, was wohl geschehen würde, wenn im Lesezimmer ein Feuer ausbräche: Da niemand Alarm zu geben wagte, säßen die altehrwürdigen Herren
wahrscheinlich starrköpfig im Rauch, während die Flammen ringsum höher schlügen.
Gespräche waren lediglich in zwei Räumen gestattet: im Gästezimmer, wo die Clubmitglieder bisweilen lästige Besucher empfingen, und, was nur wenigen bekannt war, in der schalldichten Suite im obersten Stockwerk. Diese war der ausschließlichen Nutzung durch die herrschende Clique des Clubs vorbehalten, eine Gruppe von Personen, die allesamt, zumeist in subordinierter Stellung, für die Regierung Ihrer Majestät der Königin tätig waren. Die herrschende Clique rekrutierte sich aus Ehrenmännern, die wechselweise den Vorsitz übernahmen. In den vierzehn Jahren, die Beauregard dem Diogenes-Club zu Diensten stand, hatten der Clique alles in allem neun Würdenträger angehört. Wenn ein Mitglied verschied und diskret ersetzt wurde, so geschah dies immer über Nacht.
Während man ihn warten ließ, wurde Beauregard von unsichtbaren Augen aufmerksam beobachtet. Zu der Zeit, da die Fenier ihre Sprengstoffattentate verübten, war Ivan Dragomiroff mit dem Auftrag, die gesamte Clique auszulöschen, in den Club eingedrungen. Von einem Portier im Foyer festgehalten, wurde der selbst ernannte Verschwörer lautlos garottiert, um das Zartgefühl der gemeinen Mitglieder nicht zu beleidigen, geschweige denn ihr Interesse zu erwecken. Nach ein oder zwei Minuten - keinerlei Uhrenticken störte den Frieden - hob der Diener wie auf telepathischen Befehl das purpurrote Seil, das die unauffällige Treppe versperrte, die geradewegs ins oberste Stockwerk hinaufführte, und nickte ihm verstohlen zu.
Als er die Stufen erklomm, entsann Beauregard sich der verschiedenen Gelegenheiten, bei denen man ihn vor die Clique berufen hatte. Eine solche Vorladung führte unweigerlich zu einer Reise in einen entlegenen Winkel dieser Welt und schloss vertrauliche Angelegenheiten mit ein, welche die
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