Die Vampire
Interessen Großbritanniens
berührten. Beauregard wähnte sich gleichsam eine Kreuzung aus Kurier und Diplomat, obgleich er auch schon als Forscher, Einbrecher, Betrüger oder Staatsbeamter hatte tätig werden müssen. Bisweilen bezeichnete man die Geschäfte des Diogenes-Clubs in der Öffentlichkeit als das Große Spiel. Die geheimen Geschäfte der Regierung - die nicht etwa in Parlamenten und Palästen, sondern in den Gassen Bombays und den Spielhöllen an der Riviera geführt wurden - hatten ihm zu einer wechselvollen und faszinierenden Laufbahn verholfen, wenngleich er nach seiner Pensionierung schwerlich davon würde profitieren können, seine Memoiren zu verfassen.
Während Beauregard fort gewesen war, jenes Große Spiel zu spielen, hatte Vlad Dracula London eingenommen. In seiner Eigenschaft als Fürst der Walachei und König der Vampire hatte er Viktoria umworben und für sich gewinnen können, indem er sie beschwatzte, die schwarze Tracht der trauernden Witwe endgültig abzulegen. Dann hatte er das größte Empire auf dem Erdball nach seinem Gusto umgestaltet. Beauregard hatte sich geschworen, nicht einmal der Tod könne seine Loyalität gegenüber der Königin schmälern, war jedoch überzeugt gewesen, es handele sich um seinen eigenen Tod.
Die mit Teppich ausstaffierten Stufen knarrten nicht. Durch die dicken Mauern drang kein Laut des geschäftigen Treibens der Stadt nach innen. Den Diogenes-Club zu betreten, vermittelte dem Besucher ein Gefühl, als sei er stocktaub.
Großbritannien wurde nun vom Prinzgemahl regiert, der zudem den Titel eines Lordprotektors angenommen hatte, und seine Brut gehorchte seinen Wünschen und wunderlichen Launen. Eine Elitetruppe, die sogenannte Karpatische Garde, patrouillierte rings um den Buckingham-Palast und verbreitete mit ihren wüsten Trinkgelagen im gesamten West End heiligen Schrecken. Heer, Marine, Diplomatisches Korps, Polizei und Kirche befanden
sich allesamt in Draculas Gewalt, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurden den Warmblütern Neugeborene vorgesetzt. Während vieles beim Alten blieb, gab es doch auch einige Veränderungen: Menschen verschwanden aus dem privaten sowie öffentlichen Leben, Lager wie Devil’s Dyke wuchsen in entlegenen Gegenden des Landes aus dem Boden, und nicht zuletzt der Apparat eines Regimes - Geheimpolizei, unvermittelte Festnahmen, willkürliche Hinrichtungen -, was Beauregard nicht mit der Königin, sondern Zaren und Schahs verbunden sah. In den finstersten Tiefen Schottlands und Irlands spielten republikanische Horden Robin Hood, waren kreuzschwenkende Pfaffen in einem fort bestrebt, Provinzbürgermeister mit dem Kainsmal zu zeichnen.
Am Kopf der Treppe stand ein Mann mit soldatischem Schnurrbart, dessen Hals ebenso dick war wie sein Schädel und der selbst in Zivil das vollkommene Ebenbild eines Sergeant-Majors bot. Nachdem die Wache Beauregard einer gründlichen Visitation unterzogen hatte, öffnete sie die wohlvertraute grüne Tür und trat beiseite, um dem Clubmitglied Einlass zu gewähren. Er befand sich bereits im Innern der Suite, die bisweilen die »Sternkammer« genannt wurde, als ihm einfiel, dass es sich bei dem wachhabenden Sergeant Dravot um einen Vampir handelte, den einzigen, den er im Diogenes-Club je zu Gesicht bekommen hatte. Einen entsetzlichen, angsterfüllten Moment lang glaubte er, wenn seine Augen sich an das Halbdunkel im Innern der Sternkammer gewöhnt hätten, werde sein Blick auf fünf aufgeblähte Sauger fallen, mit scharfen Klauen bewehrte Schreckensgestalten, rotgesichtig von erbeutetem Blut. Wenn die Clique des Diogenes-Clubs fiel, hatte die lange Herrschaft der Lebenden wahrhaftig ihr Ende gefunden.
»Beauregard«, ertönte eine Stimme, die nach der kurzen Stille im Club trotz ihres durchaus nicht ungewöhnlichen Tonfalls wie
ein Donnerschlag Gottes klang. Seine Angst verflog, und an ihre Stelle trat gelinde Verwirrung. Zwar befand sich kein Vampir im Raum, doch hatte sich etwas verändert.
»Herr Vorsitzender«, erwiderte er den Gruß.
Obgleich es sich traditionsgemäß verbat, die Mitglieder der Clique in ihrer Suite mit Namen oder Titel anzureden, wusste Beauregard, dass er Sir Mandeville Messervy gegenüberstand, einem scheinbar außer Dienst gestellten Admiral, der sich zwanzig Jahre zuvor mit der Unterbindung des Sklavenhandels im Indischen Ozean einen Namen gemacht hatte. Ebenfalls anwesend waren Mycroft, ein ungeheuer korpulenter Gentleman, der bei Beauregards letztem Besuch
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