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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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über das Angesicht des Mondes flattern sehen.

57
    Daheim bei unserer werten Königin
    N etley ließ das Gespann die Peitsche spüren. Der imposante Wagen hatte die schmalen Sträßchen Whitechapels durchstreift wie ein Panther das Labyrinth von Hampton Court, anstatt wie sonst geschwind und elegant dahinzufliegen. Auf den breiteren Hauptstraßen der Stadt kam er rasch voran. Die tadellose Federung des Fuhrwerks wiegte Geneviève ohne das leiseste Knarren
von Holz und Eisen in einen sanften Dämmer. Das vergoldete Wappenschild, das wie eine rotgoldene Narbe an dem polierten schwarzen Schlag prangte, zog feindselige Blicke auf sich. Trotz des verschwenderischen intérieurs fand Geneviève keine Ruhe. Mit ihren schwarzen Lederpolstern und dezenten Messinglampen gemahnte die königliche Kutsche sie allzu sehr an einen Leichenwagen.
    Sie fuhren über die Fleet Street, vorbei an den ausgebrannten und mit Brettern vernagelten Geschäftsräumen der größten Periodika des Landes. Heute Nacht herrschte kein Nebel, gleichwohl blies ein scharfer Wind. Zwar gab es unverändert Zeitungen, doch hatte Ruthven sämtliche Redakteursposten mit willfährigen Vampiren besetzt. Selbst glühende Royalisten bekamen die schnöde Bekräftigung der neuesten Gesetze oder die endlosen Lobgesänge auf die königliche Familie allmählich über. Selten nur wurde ein Artikel abgedruckt, der, in Verbindung mit gewissen intimen Kenntnissen, tatsächlich das Zeug zu einer Nachricht hatte, wie beispielsweise eine kürzlich in der Times erschienene Notiz über Colonel Sebastian Moran und dessen Ausschluss aus dem Bagatelle-Club aufgrund seiner übernatürlichen, insbesondere die einigermaßen unorthodoxe Manipulation der Karten betreffenden Fähigkeiten am Whist-Spieltisch, welche durch den rätselhaften Verlust seiner beiden kleinen Finger nunmehr stark beeinträchtigt schienen.
    Als sie an den Gerichtshöfen vorüberkamen, wehte eine Wolke von Flugblättern über die finsteren Trottoirs des Strand. Passanten - selbst jene, die anhand ihrer Kleidung unschwer als Angehörige der höheren Stände zu erkennen waren - hoben die Papiere eilends auf und stopften sie in ihre Manteltaschen. Ein Constable tat sein Bestes, so viele Zettel wie nur möglich aufzusammeln, doch sie regneten aus einer nächtlichen Mansarde herab wie Herbstlaub. Da sie von Hand in Kellerlöchern gefertigt
wurden, waren sie unmöglich auszumerzen: Wie viele Häuser auch geräumt, wie viele Schmierer auch verhaftet wurden, der vielköpfige Geist des Widerstands blieb ungebrochen. Kate Reed, eine Verehrerin Charles Beauregards, war zu einer der glühendsten Leuchten der oppositionellen Presse aufgestiegen. Versteckt im Untergrund, hatte sie sich einen Ruf als »Engel der Rebellion« erworben.
    In Pall Mall angekommen, brachte Netley - der Geneviève ein recht fahriger Bursche zu sein schien - den Wagen vor dem Diogenes-Club zum Stehen. Kurz darauf wurde der Schlag geöffnet, und Charles stieg zu ihr in die Kutsche. Nachdem er sie mit kalten Lippen auf die Wange geküsst hatte, nahm er ihr gegenüber Platz, als verbiete er sich weitere Vertraulichkeiten. Er trug einen makellosen Abendanzug mit einer blühenden weißen Rose im Knopfloch, und das scharlachrote Futter seines Umhangs floss über das schwarze Polster wie vergossenes Blut. Als der Schlag geschlossen wurde, blickte sie aus dem Fenster und sah die verstockte Miene des schnurrbärtigen Vampirs von Miller’s Court.
    »Gute Nacht, Dravot«, wünschte Charles dem Bediensteten des Diogenes-Clubs.
    »Gute Nacht, Sir.«
    Dravot stand in Habtachtstellung am Bordstein und unterdrückte mühsam einen Ehrengruß. Die Kutsche musste einen Umweg nehmen, um zum Palast zu gelangen. Seit nahezu einer Woche blockierten Kreuzfahrer die Mall; die Reste der Barrikaden versperrten den Fahrweg, und große Teile der St.-James-Street waren aufgerissen, die Pflastersteine als Wurfgeschosse verwendet worden.
    Charles’ Stimmung war gedämpft. Seit der Nacht des 9. November hatte Geneviève ihn mehrmals getroffen und war sogar in die geheiligte Sternkammer des Diogenes-Clubs vorgelassen worden, um bei einer geheimen Anhörung der herrschenden Clique ihre
Aussage zu machen. Charles hatte man vorgeladen, damit er über den Tod von Dr. Seward, Lord Godalming und nicht zuletzt auch Mary Jane Kelly berichte. Das Tribunal tat sich schwer bei dem Beschluss, welche Wahrheiten der breiten Öffentlichkeit vorenthalten und welche ihr preisgegeben werden sollten.

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