Die Vampire
zwanzig Guineas für ein frisches Vampirherz geboten. Dies verursachte vorübergehend großen Aufruhr, da Abberline den Ausländer aufzuspüren versuchte; schließlich jedoch ergab es sich, dass Vampirherzen, wenn auch leicht versehrt, unter der Hand in jedem Leichenhaus schon für die geringe Summe von einem Sixpence zu haben waren.
Baxter hatte die Untersuchung kurz vor Mitternacht vertagt und die Befragung am Morgen wieder aufgenommen. Inzwischen lag auch das Obduktionsergebnis vor, und auf der Tagesordnung standen in der Hauptsache die Aussagen einiger Ärzte, die sich in der Leichenhalle des Armenhauses von Whitechapel gedrängelt hatten, die sterblichen Überreste Lulu Schöns zu untersuchen.
Als Erster trat Dr. George Bagster Phillips, der - in Toynbee Hall wohlbekannte - Polizeiarzt von Abteilung H in den Zeugenstand, der sowohl die vorläufige Untersuchung der Leiche in der Chicksand Street wie auch ihre Obduktion vorgenommen hatte.
Seine Aussage brachte jedoch nichts weiter zutage, als dass Lulu Schön durch einen Stich ins Herz getötet und nachher ausgeweidet und enthauptet worden sei. Es bedurfte einiger Hiebe auf das Richterpult, um der Empörung Herr zu werden, die sich auf diese nicht ganz unerwarteten Enthüllungen erhob.
Nach dem Gesetz waren gerichtliche Untersuchungen an einem öffentlichen Ort durchzuführen und der Presse freier Zugang zu gewähren. Da Geneviève bereits einige Male als Zeugin ausgesagt hatte, wenn ein Almosenempfänger in Toynbee Hall verstorben war, wusste sie, dass sich die Zuhörerschaft gewöhnlich auf einen verdrossenen Lohnschreiber der Central News Agency und den ein oder anderen Freund oder Verwandten des Verschiedenen beschränkte. Heute jedoch war der Vorlesungssaal noch übervölkerter als gestern. Die Bänke waren so dicht besetzt, als lieferten Con Donovan und Monk sich auf der Bühne einen Revanchekampf um die Meisterschaft im Federgewicht. Neben den Reportern, welche die vorderen Plätze mit Beschlag belegten, bemerkte Geneviève eine Horde hagerer, vorwiegend untoter Frauen in buntfarbigem Aufzug, ein Häuflein vornehm gekleideter Herren, einige uniformierte Kollegen Lestrades sowie eine Handvoll Sensationssüchtige, Geistliche und Sozialreformer.
In der Saalmitte saß, trotz der überzähligen Besucher umringt von freien Stühlen, ein langhaariger Vampirkriegsmann. Er war kein Neugeborener und trug die Uniform der Karpatischen Garde des Prinzgemahls samt stählerner Harnischbrust und - zum Zeichen der besonderen Gunst seines Gebieters - bequastetem Fez. Sein Gesicht war verwittertes weißes Pergament, und seine Augen, blutrote Murmeln in diesem Meer aus toter Haut, schnellten unentwegt hin und her.
»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte Lestrade.
Geneviève wusste es nur zu gut. »Kostaki, einer von Vlad Tepes’ Gefolgsleuten.«
»Bei denen kommt mir das kalte Gruseln«, meinte der neugeborene Kriminalbeamte. »Die Ältesten.«
Geneviève hätte beinahe laut aufgelacht. Kostaki war jünger als sie. Er hatte sich schwerlich aus Neugierde hierherbegeben. Der Palast zeigte Interesse an Silver Knife.
»Nacht für Nacht sterben in Whitechapel Menschen Tode, wie nicht einmal Vlad Tepes sie ersinnen könnte, oder leben ein Leben, das schlimmer ist als jeder Tod«, sagte Geneviève, »dennoch tun wir von einem Jahr aufs nächste gerade, als sei London uns ebenso fern wie Borneo. Aber geben Sie ihnen eine Handvoll blutiger Morde, und Sie können vor lauter Schaulustigen und lüsternen Philanthropen keinen Fuß mehr vor den anderen setzen.«
»Vielleicht hat es damit ja auch sein Gutes«, erwiderte Lestrade.
Baxter dankte Dr. Bagster Philips, entließ ihn und rief Henry Jekyll, MD, DCL, LLD, FRS et cetera, in den Zeugenstand. Ein würdevoller, ehemals offenbar ansehnlicher, bartloser Mann von etwa fünfzig Jahren näherte sich dem Richterpult und leistete den Eid.
»Wo immer ein Vampir getötet wird«, erklärte Lestrade, »ist Jekyll nicht weit. Er hat schon etwas recht Verwunderliches an sich, wenn Sie verstehen, was ich meine …«
Dem Naturforscher, der zunächst eine ausführliche und anatomisch genaue Schilderung der Grausamkeiten vortrug, warmes Blut zu attestieren, hatte nur insofern seine Berechtigung, als dass er kein Vampir war. Dr. Jekylls außerordentliche Selbstbeherrschung ließ einen beängstigenden Mangel an Mitgefühl für den menschlichen Gegenstand dieser Untersuchung vermuten, doch lauschte Geneviève voller Interesse - welches gewiss
Weitere Kostenlose Bücher