Die Vampire
Saals gesessen, während die verschiedensten Zeugen zu Herkunft und Werdegang Lulu Schöns aussagten. Sie ragte deutlich aus dem Gros der East-End-Dirnen heraus. Die Gräfin Geschwitz, eine männische Vampirfrau, behauptete, sie sei mit dem Mädchen aus Deutschland gekommen, und geizte nicht mit allerlei Einzelheiten aus Lulus Vergangenheit: eine unablässige Folge falscher Namen, halbseidener Bekanntschaften und verstorbener Ehemänner. Falls man ihr bei der Geburt einen Namen gegeben hatte, so war er niemandem bekannt. Einem Telegramm aus Berlin zufolge wurde sie im Zusammenhang mit der Erschießung eines ihrer letzten Gatten noch immer von der deutschen Polizei gesucht. Sämtliche Zeugen - eingeschlossen die Geschwitz, die sie auch verwandelt hatte - waren unzweifelhaft in Lulu verliebt oder begehrten sie doch wenigstens über die Maßen. Die Neugeborene hätte es gewiss zu einer der grandes horizontales Europas bringen können, doch hatten Torheit und Unglück sie dazu verdammt, ihre Freier auf den ärmlicheren Straßen Londons für vier Pence mit einer Stehpartie beglücken zu müssen und sie schließlich in die todbringenden Arme von Silver Knife getrieben.
Während der gesamten Aussage überlegte Lestrade halblaut, wie die Büchse der Pandora wohl zu öffnen sei. Es stand beinahe zweifelsfrei fest, dass die einzige Verbindung zwischen dem Whitechapel-Mörder und seinen Opfern erst im Augenblick ihres Todes zustande kam, und doch durfte die Polizei bei ihren Ermittlungen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass es sich um die vorbedachte Tötung bestimmter Frauen handelte. In der Commercial Street waren Abberline, Thick und die anderen
damit beschäftigt, die Biografien der Nichols, der Chapman und der Schön, die es an Detailgenauigkeit mit jeglicher Lebensbeschreibung eines großen Staatsmannes aufzunehmen vermochten, zusammenzutragen und zu vergleichen. Wenn sie zwischen den Frauen eine Verbindung herstellen könnten, die über die Tatsache hinausging, dass es sich bei allen dreien um Vampirprostituierte handelte, würde sie das vielleicht zu ihrem Mörder führen.
Als die Untersuchung, die am Nachmittag begonnen hatte, in den Abend hineinreichte, interessierte Baxter nur mehr, was die Schön in der Nacht ihres Todes getrieben hatte. Mit vor frischem Blut nachgerade strotzendem Gesicht sagte die Geschwitz aus, Lulu habe ihren gemeinsamen Dachboden zwischen drei und vier Uhr morgens verlassen. Die Leiche war von Constable George Neve entdeckt worden, als dieser um kurz nach sechs Uhr seinen Rundgang machte. Nachdem Lulu vermutlich mitten auf der Chicksand Street verstümmelt worden war, hatte der Mörder ihre Leiche vor der Türe einer Kellerwohnung deponiert, in der sich zu diesem Zeitpunkt eine polnisch-jüdische Familie aufhielt, deren jüngste Tochter allein annähernd so etwas wie Englisch sprach. Sie alle gaben an, wie das Kind nach einem wirren, auf Jiddisch geführten Wortstreit übersetzte, sie hätten nichts gehört, bis Constable Neve sie aus dem Schlaf riss, indem er ihnen gleichsam die Haustüre einschlug. Rebecca Kosminski, die selbstgewisse Sprecherin, war der einzige Vampir der Familie. Geneviève sah ihresgleichen nicht zum ersten Mal; Melissa d’Acques, die Chandagnac verwandelt hatte, war eine wie sie gewesen. Zwar mochte Rebecca durchaus zur großmächtigen Matriarchin einer weit verzweigten Sippe aufsteigen, doch würde sie niemals erwachsen werden.
Nervös umherzappelnd schimpfte Lestrade in einem fort über den »Bauernschwank«, welcher ihm hier geboten werde. Es wäre
ihm weitaus lieber gewesen, den Schauplatz des Verbrechens abzusuchen, statt auf einer harten, für Zwölfjährige mit zähem Hinterteil und kurzen Beinen bestimmten Holzbank zu sitzen, doch durfte er sich Fred Abberline nicht allzu häufig in den Weg stellen. Schwermütig berichtete er Geneviève, dass Baxter für die Ausführlichkeit seiner Befragungen bekannt sei. Charakteristisch für die Herangehensweise des Coroners waren ein obsessives, um nicht zu sagen ermüdendes Beharren auf unwichtigen Einzelheiten und die derbe Resolutheit seiner Resümees. In seiner Schlussbemerkung zum Falle Annie Chapman hatte Baxter aufgrund von im Middlesex Hospital zufällig belauschten Klatschgeschichten die Theorie entwickelt, dass ein amerikanischer Arzt entweder selbst der Mörder sei oder aber in den Diensten des Mörders stehe. Gerüchten zufolge hatte der unbekannte Arzt, der die Physiognomie der Untoten erforschte,
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