Die Vampire
Fronteinsatz gehindert, hatte er seine längst verstummte Muse zu neuen Höhenflügen angespornt. Verfasst in einem einwöchigen, fiebrigen Anfall von Schaffenskraft, beschrieb Die Schlacht von St. Petersburg, wie Wilhelm und Franz Joseph binnen eines Monats Frankreich in die Knie zwangen und sich sodann der feierlichen Pflicht zuwandten, Russland zu erobern. Eine Geschichte von wagemutigen Dampfrossattacken und kühnen, blaublütigen Helden, die den Kampfgeist großer Tage mit den Wundern der modernen Wissenschaft verband. Ganz Europa stand im Banne seiner Schilderung des von Zeppelinflotten belagerten St. Petersburg
und der völligen Unterwerfung der Kosaken durch motorisierte Ulanen. Dracula zeigte sich so fasziniert von der Vorstellung eines selbst getriebenen Molochs, der sich Schienen legte, um darauf ins Herz des Zarenreiches vorzustoßen, dass er eine Prüfung über die Möglichkeit verlangte, ein solches Gefährt nachzubauen. Dies fand die Unterstützung des Ingenieurs Robur, dem unentwegten Streiter für den Einsatz von Luftkriegsschiffen. In England und Amerika erschienen Raubdrucke »vom berühmten Verfasser des ›Raben‹«. Ein gewissenloser Belgier, der sich J. H. Rosny aîné nannte, kopierte das Buch Kapitel für Kapitel unter dem Titel La bataille de Vienne, wobei er aus den deutschen Figuren Franzosen machte und russische Ortsnamen durch Schauplätze in Deutschland und Österreich-Ungarn ersetzte. Poe gewann seinen Ruf als Visionär zurück, den er in seinen warmblütigen Tagen errungen hatte, und war als Redner sehr begehrt. Er besuchte Turnanstalten und teilte seine Vision mit markigen, frisch uniformierten jungen Männern, die sie in die Tat umsetzen würden. Es schien, als könne er solch infantile Plagiatoren wie Monsieur Verne und Mister Wells auf alle Zeit vergessen machen.
Ein alter Mann trappelte durch den Wartesaal. Er zog einen Schubkarren mit prall geschnürten Bündeln vergilbten Papiers hinter sich her. Obgleich er warmen Blutes war, roch er saftlos und dürr. Ohne Poe eines Blickes zu würdigen, verschwand der Schreiber durch eine Seitentür in einem labyrinthischen Archiv. Das Hohe Gericht des Amtes war eine Festung des vergessenen Wissens, eine Alexandrinische Bibliothek der Nichtigkeiten.
Obschon die »Prophezeiungen« der Schlacht von St. Petersburg nunmehr von denselben Kritikern verdammt wurden, die sie einst als vorbildlich gepriesen hatten, hielt Poe seine Vision für wahrhaftiger als die der Kriegsberichterstatter. Seine Welt hätte Wirklichkeit sein sollen; nicht das schlammige, retranchierte, todbringende Patt, das ganz Europa lähmte. Die Briten hätten
entweder neutral bleiben oder gegen ihren Erbfeind, den Franzosen, zu Felde ziehen müssen. Wahrlich, was scherte sich ein Brite um das kleine, rotznäsige Belgien? Zeppeline würden majestätisch über den versklavten Horden der Steppe schweben. Die Großen Kaiserreiche würden sich alles Unreinen entledigen und die Geschicke des Planeten lenken.
Edgar Poe wäre der größte Prophet seiner Zeit. Es hieß, dass kein Vampir ein Werk von bleibendem ästhetischem oder intellektuellem Wert erschaffen könne. Poe gierte danach, dieses Diktum zu entkräften. Doch die Welt von Glanz und Gloria, die kurz vor der Geburt zu stehen schien, verwandelte sich mit einem Mal in einen Alb der Langeweile und des Hungers.
Die Aufschläge seiner Hosen waren ausgefranst, und er trug einen Zelluloidkragen, der mit Federharz gesäubert werden musste. Es war eine Gnade Gottes, dass Virginia nicht mehr zu erleben brauchte, in welch jämmerlichem Zustand ihr Eddy sich befand.
Ein Bediensteter trat ein. Er trug eine bodenlange Schürze und eine übergroße Mütze mit grüner Augenblende. Er hielt ein Glöckchen in die Höhe und ließ es schellen. Das Klingeling war eine wahre Folter für Poes Ohren.
»Herr Poe, wenn Sie mir folgen möchten«, sagte der Bedienstete in schlechtem Deutsch.
Die Unterredung fand nicht in einer Stube, sondern in einem hohen Flur statt. Durch schmale Fenster fiel schmutziges Licht. Amtsdiener schoben schwere Karren über den Korridor. Poe musste sich gegen die Wand drücken, um sie passieren zu lassen.
Poe traf nicht zum ersten Mal auf Kafka, einen scharfsinnigen Juden mit wunderlichen Segelohren und durchdringendem Blick. Da dem Schreiber die Vorstellung, dass ein Amerikaner sich im Ghetto aufhielt, nicht recht zu behagen schien, legte er bei der Lösung des Falles schwunghaften Eifer an den Tag. Bislang
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