Die Vampire
König der Vampire gewesen war, lange bevor man ihn zum Gebieter über Großbritannien gekrönt hatte. Die Untoten bildeten seit Jahrtausenden ein unsichtbares Königreich; der Prinzgemahl hatte mit einem Streich reinen Tisch gemacht, so dass er nun über Warmblüter und Vampire gleichermaßen herrschte. Ruthven, der seine Jahrhunderte mit Reisen und Tändeleien zugebracht hatte, wurde mit den anderen Ältesten ans Licht gezerrt. Zwar mochten manche sagen, dass ein chronisch verarmter Edelmann - der einmal bemerkte, für seinen Titel und seine wüsten Ländereien in Schottland könne
er sich eine Kuchensemmel im Wert von einem halben Penny kaufen, so er denn einen halben Penny hätte - aus all den Veränderungen guten Gewinn geschlagen habe. Doch Seine Herrlichkeit, ein Mann, dessen Titel einem Vergleich mit dem Godalmings schwerlich standzuhalten vermochte, war ein Nörgler.
»Inzwischen kennt Dracula seinen Bradshaw in- und auswendig und schimpft sich einen ›Neueren‹. Er kann Ihnen sagen, zu welchen Zeiten an den Bankfeiertagen die Züge zwischen St. Pancras und Norwich verkehren. Aber er begreift einfach nicht, dass die Erde sich gedreht hat, seit er den Tod fand. Wissen Sie, wie er gestorben ist? Er verkleidete sich als Türke, um den Feind auszuspionieren, und wie er ins Lager zurückkehren wollte, brachen ihm seine eigenen Leute das Genick. Der Same war bereits in ihm, eingebracht von irgendeinem närrischen nosferatu, und so kroch er wieder aus der Erde. Er ist ohne feste Herkunft. Und wie er seine Heimaterde liebt, er schläft bei jeder Gelegenheit darin. Grabesfäule ist in seinem Blut, Godalming. Das ist die Krankheit, die er überall verbreitet. Sie dürfen sich glücklich schätzen, dass Sie von meinem Geblüt sind. Es ist rein. Wir mögen uns nicht in Wölfe und Fledermäuse verwandeln können, mein Fangsohn, dafür verfaulen wir aber auch nicht an den Knochen oder verlieren den Verstand in mörderischer Raserei.«
Godalming hegte die feste Überzeugung, Ruthven habe ihn nur deshalb auserkoren und zum Vampir gemacht, weil er in eine Affäre verstrickt war, die gemeinhin als heimtückische Verschwörung gegen das Königshaus galt. Zu Lebzeiten hatte Godalming die ersten britischen Nachkommen Draculas höchstselbst vernichtet. Das machte ihn zu einem aussichtsreichen Kandidaten für den Pfahl, gleich nach Van Helsing und jenem kleinen Sachwalter Harker. Schaudernd gedachte er der donnernden Schläge, mit denen er den Pflock ins Herz seiner über alles geliebten Lucy getrieben hatte, und verspürte bitteren Hass gegen den Holländer,
von dem er zu dieser Ungeheuerlichkeit angestiftet worden war. Er hatte eine verbrecherische Torheit begangen und war nun voll der Begierde, seine Untat wiedergutzumachen. Dank seiner Verwandlung und Ruthvens Bereitschaft, ihn unter seine Fittiche zu nehmen, brauchte er um sein Herz einstweilen nicht zu fürchten, doch wusste er nur allzu gut um die Flatterhaftigkeit und Rachgier des Prinzgemahls. Überdies war auch sein Fangvater nicht eben für Verlässlichkeit und ausgeglichenes Temperament bekannt. Wenn er in dieser veränderten Welt ein sicheres Plätzchen finden wollte, musste er auf der Hut sein.
»Seine Denkweise wurde noch zu Lebzeiten geprägt«, fuhr Ruthven fort, »als man ein Land mit Schwert und Pfahl regieren konnte. Er hat die Renaissance, die Reformation, die Aufklärung, die Französische Revolution, den Aufstieg der beiden Amerikas und den Niedergang der Osmanen versäumt. Er will den Tod unseres tapferen Generals Gordon rächen, indem er eine Rotte raubgieriger Vampiridioten in den Sudan entsendet, das Land zu verwüsten und all jene zu pfählen, die dem Mahdi treu ergeben sind. Ich sollte ihn wohl nicht daran hindern. Wir können gut ohne seine karpatischen Kameraden leben, die nichts tun, als das Staatssäckel zu leeren. Sowie gescheite Muselmanen auch nur hundert dieser Tölpel niedermachen, auf dass sie in der Sonne faulen, werden alle Schenkmädchen in Piccadilly und Soho voll der Dankbarkeit den Halbmond hissen.«
Ruthven strich über einen zweiten Stapel Briefe, der rings um ihn zu Boden regnete. Mit seinen kalten grauen Augen und dem totenbleichen Gesicht vermittelte der Premierminister den Eindruck, als sei er kaum über die zwanzig. Auch wenn er frisches Blut getrunken hatte, verriet seine Haut nicht die leiseste Rötung. Trotz seiner Schwäche für zarte junge Mädchen zog er talentierte junge Männer von Stand als Nachkommen vor. Er
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