Die Vampire
Herz statt für den Kopf. Wenn man denken möchte, fährt man nach Paris; wenn man fühlen möchte, kommt man nach Rom. Nach einer Weile treibt es einen in den Wahnsinn. Ich weiß nicht, wie lange ich es hier noch aushalten werde danach.«
Sie sprach es nicht aus.
»Wie geht es ihm?«, fragte Kate ohne Umschweife.
Geneviève legte nachdenklich den Kopf schief und runzelte leicht die Stirn. Sie schob die Sonnenbrille zurück wie einen Haarreif. Kate sah Schmerz in ihren Augen.
»Von Tag zu Tag ist weniger von ihm da. Es ist keine Krankheit. Nur das hohe Alter. Es ist nicht mehr viel da, das ihn hier hält.«
»Ist es zu spät? Für seine Verwandlung?«
Geneviève dachte einen Moment nach. Kate wusste genau, dass
sie sich darüber schon den Kopf zerbrochen hatte. Warum hatte sie nichts unternommen, keine Entscheidung gefällt?
»Die Kirche behauptet, es gäbe so etwas wie eine Bekehrung auf dem Sterbebett«, sagte Geneviève. »Ich wüsste nicht, warum es nicht möglich wäre. Um sich zu verwandeln, muss man nur nahe am Sterben sein.«
»Du hast keine Brut?«
Die andere Vampirin schüttelte den Kopf.
»Niemanden, in diesen ganzen Jahrhunderten nicht?«
Geneviève machte ein leicht trauriges Gesicht und zuckte die Achseln, eine sehr französische Geste.
»Die ersten vierhundert Jahre lang musste ich mich verstecken. Du hast die damaligen Zeiten nicht erlebt, Kate. Bevor Dracula nach London kam und die untote Bevölkerung explodierte, empfanden viele Vampire die Verwandlung als einen Fluch, nicht als eine Gnade. Sie glaubten, sie hätten so schrecklich gesündigt, dass ihnen der Himmel verschlossen blieb. Selbst heute bin ich mir nicht sicher, dass der Wandel nur Gutes hatte.«
»Das kannst du nicht ernst meinen, Geneviève.«
»Du bist immer noch sehr jung, Kate.«
Kate spürte, wie Ärger in ihr aufwallte. Geneviève führte sich auf wie das Klischee einer Ältesten. Kennt alles, kann alles, weiß alles. Und angeödet bis zum Gehtnichtmehr.
»Du hast ja auch keine Brut.«
»Ich weiß nicht so recht, mit meinem Blutgeschlecht«, sagte Kate. »Trotz der Unmengen, die mein Fangvater verwandelt hat, bin ich die einzige Überlebende.«
Die Mehrheit derjenigen, die in Vampire verwandelt wurden, erreichten nicht einmal die übliche Lebenserwartung, geschweige denn dass sie Älteste wurden. Neugeborene aus einem verdorbenen Blutgeschlecht entwickelten sich schlecht. Wenn eine warmblütige Person verwandelt wurde, durchlief sie einen Moment
der fließenden Formbarkeit. Man brauchte einen starken Willen, um das durchzustehen. Viele verurteilten sich zu einem kurzen, schmerzvollen Taumel durch die Finsternis.
»Charles ist nur wegen uns noch am Leben, Kate. Du und ich, wir haben von ihm getrunken. Seine Lebenskraft berührt. Wir haben ihn nicht verwandelt, aber verändert. Er ist ein Teil von uns, und wir sind ein Teil von ihm. Manchmal verwechselt er uns beide. Er schaut mich an und sieht dich.«
»Und Pamela?«
Nun war Geneviève schmerzerfüllt. Da sie beide geübt darin waren, Gefühle wahrzunehmen, konnten sie ein Gespräch mittels winzigster Gesichtsausdrücke aufrechterhalten.
Kate bereute ihre Bemerkung. Sie durfte die Gefühle der Frau für Charles nicht geringschätzen. Was Geneviève Dieudonné von den meisten Ältesten unterschied, war ihre Fähigkeit, wahrhaftig zu lieben. Viele Älteste waren nicht einmal zur Selbstliebe imstande.
»Ja«, gab Geneviève zu. »Pamela spielt eine immer größere Rolle.«
»Du hast sie nie gekannt.«
Pamela Churchward, Penelopes Cousine, war ein paar Jahre älter als Kate gewesen. Sie hatte gewusst, was Kate, damals ein so gut wie blinder, warmblütiger pubertärer Rotschopf, Charles gegenüber empfand, und sich immer die Mühe gemacht, freundlich zu sein. Pam war jung gestorben, in Indien, als sie von Charles schwanger war. Die schreckliche, blutige Angelegenheit hatte Charles sehr mitgenommen, und er hatte sich in die Pflicht gestürzt, in die Selbstverleugnung.
Seine Verlobung mit Penelope war ein vergeblicher Versuch gewesen, Pamela zurückzuholen. Eine unschöne Sache, vor allem für Penny. Ihr Unvermögen, ihm Pam zu ersetzen, hatte sie wahrscheinlich zu Lord Godalming getrieben, zum dunklen Kuss.
»Du hast viel mehr Ähnlichkeit mit Pamela als Penelope«, sagte Kate.
»Und du viel mehr als ich.«
»Aber nur, weil ich wie sie sein wollte. Penny auch. Sogar Mina Murray. Pam war das Original und wir die jämmerlichen Kopien.«
»Tscha! Du hattest
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