Die Vampire
Besuch konnte doch nicht allein dazu dienen, den letzten Überresten von Draculas Entourage für den Aufenthalt zu danken. Es musste noch um etwas anderes gehen, um etwas von internationaler Bedeutung.
»Gnädige Frau«, sagte der Russe, »uns liegt viel daran, dass die Papiere des Verstorbenen mit Feingefühl geordnet werden.«
»Es gibt einiges an Unterlagen«, gab Penelope zu. »In einer Vielzahl von Sprachen, von denen ich nur mit wenigen vertraut bin. Vieles muss von historischer Bedeutung sein. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich ein dauerhafter Sitz für dieses Dracula-Archiv finden ließe.«
Die distinguierten Besucher wechselten Blicke. Tom verstand diese Leute. Sie wollte alle gern mit den Papieren allein gelassen werden, um nach Dokumenten zu suchen, die für sie oder ihre Feinde peinlich wären. Jeder traute dem anderen zu, das Material für seine Zwecke zu missbrauchen - mit Recht. Sie alle wollten haben, was sie nur kriegen konnten.
»Die Bibliothek des Britischen Museums wäre willens, diese Aufgabe zu schultern«, bot Profumo an und ließ sich Tee nachschenken.
»Non«, sagte De Gaulle.
Niemand war unverfroren genug, der eigenen Sache Nachdruck zu verleihen. Das würde später kommen.
Draußen war etwas zu hören.
»Ich glaube, Prinzessin Asa gesellt sich zu uns«, sagte Penelope.
Klove, der aus Gründen des Respekts wenig glücklich darüber war, öffnete die Tür, und die Prinzessin schlurfte herein. Asa trug noch immer ihr Hochzeitskleid. In ihr Haar waren Blumen gebunden, auf ihren Wangen lag flüchtig aufgetragenes Rouge. Sie weinte fast, als sie sich in den Kristallsaal schleppte.
»Prinzessin, Teure, kann ich Euch eine Erfrischung anbieten?« Penelope hielt eine weiße Maus am Schwanz hoch. Sie hatte das Tier aus einem wimmelnden Fischglas voller Nager genommen, die noch vom Fest übrig waren.
Asa nahm die Maus und verschlang sie in zwei Bissen. Blut spritzte auf ihr spitzenbesetztes Brustteil.
Penelope sah sie ebenso erfreut wie mitfühlend an. Sie wandte sich mit derselben Miene an ihre Gäste und gestattete sich die Andeutung eines Achselzuckens à la »Was soll man da machen?«.
Asa schluckte das Gekaute hinunter und hielt sich an Penelope fest wie ein Kind. Die Engländerin zupfte am Haar der Moldawierin, löste Knoten und zog tote Blumen heraus.
»Sie hat einen Schock erlitten, die Ärmste«, erklärte Penelope überflüssigerweise. »Aber in ein paar Jahren geht es ihr bestimmt wieder gut. Nicht wahr, teuerste Asa?«
Sie nickte, und Asa ahmte sie nach.
26
Mr. West und Dr. Pretorius
D ie sterblichen Überreste wurden auf der untersten Ebene des zentralen Leichenschauhauses aufbewahrt. Aus erhaltenen Teilen von Wandmalereien schloss Geneviève, dass das Gebäude auf den Grundmauern eines Amtsgebäudes des alten
Roms errichtet worden war. Vielleicht waren gefallene Gladiatoren hierhergebracht worden, für primitive anatomische Studien. Aber viel wahrscheinlicher war, dass dies hier einst ein Bordell gewesen war.
Auf dem Weg nach unten kam sie durch Räume mit ordentlichen Kühlvorrichtungen für die Toten und durch Säle, in denen die Leichen wahllos durcheinander auf fahrbaren Krankentragen lagen. Wer dem Alter, Krankheiten, Unfällen oder weniger spektakulären Gewalttaten zum Opfer gefallen war, lag friedlich dort, bis der durch die Vampirmorde entstandene Stau abgearbeitet sein würde. Obwohl Geneviève mit den Opfern bestenfalls flüchtig bekannt gewesen war, rief die Vernichtung von sieben Ältesten - acht, wenn man Dracula mitzählte - ihr die eigene Sterblichkeit vor Augen. Wenn sie das Fest früher verlassen hätte, wäre sie dem scharlachroten Henker vielleicht selbst begegnet. Sämtliche Opfer waren alt genug gewesen, dass sie ganze Generationen von furchtlosen Vampirjägern überlebt und diverse Anschläge überstanden hatten. Sie hatte keinen Grund zu der Annahme, dass sie mehr Glück gehabt hätte, wenn der Mann in Rot mit seiner silbernen Axt hinter ihr her gewesen wäre.
Aufgrund der Akustik war im Hintergrund unablässig Gemurmel zu hören. Die Luftströmungen im Gebäudeinneren erfassten die Stimmen von Ärzten und Leichenbeschauern, Polizisten und trauernden Angehörigen und ließen sie in einem sinistren Flüsterton zirkulieren, der grässlich nach den gebündelten Beschwerden der Toten klang. Geneviève war zu einer Zeit geboren worden, die das Wort »Zimperlichkeit« noch gar nicht kannte. Ihr leiblicher Vater war Wundarzt gewesen und hatte auf
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