Die Vampirverschwoerung
Munterkeit loszuwerden, und strich sich mit den Händen die Haare vors Gesicht.
»Ich komme«, rief sie. Plötzlich war sie total nervös. Was, wenn er den Rollentausch durchschaut?, überlegte sie.
Sie stieg schnell die Treppe hinauf in die Eingangshalle und wappnete sich für den Augenblick, in dem Mr Vega sie als Lucy verkleidet erblicken würde. Aber als sie oben ankam, kehrte ihr Vater ihr den Rücken zu und stemmte die FüÃe in den Steinboden. Er versuchte, etwas durch die Eingangstür zu ziehen, das in der schwachen Beleuchtung aussah wie ein riesiges graues zotteliges Monster.
»Hilf ⦠mir ⦠bitte«, stöhnte er.
»Was ist das denn?«, quiekte Olivia, verwünschte sich aber gleich darauf, weil ihre Schwester sich nie so schnell aufgeregt hätte.
»Der Weihnachtsbaum«, sagte ihr Vater keuchend. »Er steckt fest!«
Jetzt konnte Olivia auch erkennen, dass ihr Vater natürlich kein Monsterfell festhielt, sondern die Zweige eines riesigen Baumes. Eigenartigerweise waren die Nadeln aber silbergrau statt grün.
Ihr Vater grunzte vor lauter Anstrengung. Olivia rannte zu der Stelle, wo der Baum im Eingang festsaÃ, aber sie konnte ihn nirgendwo richtig anpacken. Sie beugte sich hinunter und sah, dass sich dort zwischen
dem Baum und dem Türpfosten eine kleine Lücke befand.
»Beeil dich!«, rief ihr Vater heiser.
Olivia krabbelte auf allen vieren schnell unten durch und tauchte drauÃen auf, wo ihr sofort die Kälte ins Gesicht schlug. Sie lief zum unteren Ende des Baumes und versuchte ihn an seinem abgehackten Stamm nach vorn zu schieben. Nichts rührte sich. Sie versuchte es erneut. Nichts.
»V-O-R«, feuerte sie sich leise selbst mit einem Cheer an, während sie sich mit ganzer Kraft gegen den Baum stemmte, »A und N! So geht es vo-ran!«
Plötzlich glitt der Baum wie ein gigantischer Pfeifenreiniger durch die Tür. Von innen war ein riesiges Krachen zu hören. Olivia rannte hinein.
Ihr Vater lag auf dem Boden ausgestreckt, die Baumspitze im Schoss. Er lachte. Olivia konnte sich nicht erinnern, ihn schon mal so lachen gehört zu haben.
»So bringt man Weihnachtsstimmung ins Haus!«, sagte er ausgelassen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Olivia.
»Jetzt ja. Danke, Lucy. Du warst schon immer stark und schlau.«
»Danke«, sagte Olivia sanft. Es fühlte sich gut an, ein Kompliment von ihm zu bekommen, auch wenn er nicht wusste, dass sie es war.
»Ich wollte dich eigentlich überraschen«, gab Mr Vega zu. Er griff in seine Hosentasche und reichte Olivia ein zusammengefaltetes Stück Papier. Sie faltete es mit zitternden Händen auseinander.
Es war die Kohlezeichnung, an der er vor einigen Tagen gearbeitet hatte, als Olivia und Lucy ihn in seinem Arbeitszimmer überrascht hatten. Olivia sah jetzt, dass es ein Entwurf für den unglaublichsten Weihnachtsbaum aller Zeiten war.
»Es ist eine Flindersia«, erklärte ihr Vater ihr, »ein seltener Baum, den ich extra bestellt habe.«
Auf der Zeichnung wirkte der Weihnachtsbaum fast genauso groÃ, wie er in Wirklichkeit war, und reichte vom Boden bis zur Decke der Eingangshalle. Der gesamte Baum war so kunstvoll geschmückt, dass es aussah, als wäre er von einer glitzernden zarten Spinnwebe bedeckt. Obendrauf hockte eine Fledermaus.
»Er ist wunderschön«, flüsterte Olivia.
»Ich wollte etwas Besonderes für dich machen, um unser letztes Weihnachten in diesem Haus zu feiern.« Ihr Vater lächelte liebevoll.
»Danke ⦠Dad. Das ist einfach umwerfend«, sagte Olivia aufrichtig. Dann streckte er die Arme aus und umarmte sie fest und Olivia zersprang beinahe das Herz.
»Können wir ihn heute Abend schon schmücken?«, fragte sie kurz darauf.
Er schüttelte den Kopf. »Heute nicht, Liebes. Es ist schon zu spät. Wir machen es morgen.«
»Okay«, sagte Olivia sanft und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Ein wenig später lag Olivia im Dunkeln auf Lucys Sarg und erinnerte sich daran, wie ihr Vater sie eben
umarmt hatte. Sie lächelte vor sich hin. Vielleicht ist Lucy einverstanden, morgen noch mal die Rollen zu tauschen, dachte sie beim Einschlafen. Vielleicht können Dad und ich den Baum zusammen schmücken.
Am Freitagmorgen stand Olivia in einer Kabine des Schulklos und beeilte sich zehn Minuten vor Beginn ihrer
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