Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
hatte. Auch sonst war die Küche ein willkürliches Sammelsurium von Flohmarkttrödel und ultramodernen Küchenutensilien. An der Wand hinter dem Küchentisch hing, quasi als Kontrapunkt, ein riesiges abstraktes Bild in diversen Rottönen. Es war von einem befreundeten Künstler, der sich gerade in der Hamburger Kunstszene einen Namen machte. Susannes Großmutter-Anrichte war mit Geschirr so vollgestopft, dass sie mittlerweile auch auf der Fensterbank Sachen deponierte. Susanne bestand darauf, nicht zwei gleiche Teller oder Tassen zu besitzen – ein vollständiges Service hätte sie als Gipfel der Spießigkeit empfunden. Marion liebte diesen Raum; in Asien hatte sie die gemütlichen Abende in Susannes Küche vermisst. Unzählige Male hatte sie hier mit ihrer Freundin gesessen und über Gott, die Welt und die Männer diskutiert.
Susanne besaß einen ähnlich unabhängigen Charakter wie Marion. Hinter ihrem zarten, zerbrechlichen Aussehen verbarg sich eine willensstarke Frau, die ihr Leben unter Kontrolle hatte. Zu ihrem Leidwesen weckte ihre Statur den Beschützerinstinkt vieler Männer, weshalb ihre Beziehungen bisher ausnahmslos gescheitert waren: Susanne wollte nicht beschützt werden, und die Männer ergriffen die Flucht, weil sie mit ihrem hitzigem Temperament nicht zurechtkamen.
Marion sah an ihrer Freundin hinunter. Susannes eigenartige Auffassung von Mode spiegelte ihren rebellischen Geist wider. Heute Abend trug sie einen kurzen Cordrock, geringelte Strumpfhosen und einen violetten Pullover mit viel zu langen Ärmeln. Marion gefiel es, aber selbst in der Redaktion ihrer Frauenzeitschrift hielt man Susanne für einen bunten Vogel. Vielleicht war sie deshalb so erfolgreich: Die Menschen fassten schnell Vertrauen zu ihr, weil ihre Kompromisslosigkeit ehrlich und glaubhaft war. Susanne hatte eine Serie von Interviews und Reportagen veröffentlicht, die ihr in Verlagskreisen viel Achtung eingebracht hatten.
Susanne strahlte. »Langt zu – und wehe, ich entdecke Essmanieren.«
»Nach einem Jahr in Asien besteht kein Anlass zur Hoffnung, dass wir nicht schmatzen und kleckern.«
Marion und Thomas aßen, bis sie sich nicht mehr rühren konnten. Susanne knabberte an einer Scheibe Brot und feuerte eine Frage nach der anderen auf sie ab.
»Auszeit!«, rief Marion schließlich. Sie wurde ernst. »Ist das angekündigte Päckchen schon da?«
»Ja, seit gestern. Warte, ich hole es.«
Susanne kam zurück und schob die Teller beiseite, um auf dem Tisch Platz zu schaffen. Erleichtert öffnete Marion das Paket. Das ganze Essen über hatte sie wie auf heißen Kohlen gesessen, sich aber nicht getraut zu fragen. Sie wollte Susanne und Thomas nicht zeigen, wie sehr die Figur sie im Griff hatte. Dass sie kaum an etwas anderes denken konnte. Als Erstes hob sie die Kuan Yin heraus und wickelte sie aus.
»Die Göttin der Barmherzigkeit«, erläuterte sie den beiden. »Sie ist heil geblieben. Ein gutes Omen.«
Als Nächstes folgten der Fächer und die Jadeanhänger. Marion drückte Susanne und Thomas jeweils einen in die Hand. Die Figur des Kuan Kong stellte sie vor Susanne.
»Ein mythischer Krieger, der das Haus beschützt. Wir sollten ihn gegenüber der Eingangstür aufstellen.«
»Er sieht gefährlich aus«, sagte Susanne. Sie hob ihn an. »Der ist richtig schwer! Notfalls kann man ihn einem Einbrecher über den Schädel ziehen.«
»Das ist nicht komisch«, sagte Thomas.
Susanne sah ihn abschätzend an. »Ich denke, es wird Zeit, dass ihr mir alles erzählt. Aus Marions Mails bin ich nicht schlau geworden. Ihr seid verfolgt worden?«
»Wir werden verfolgt. Aber das kann Marion dir selbst berichten. Ich rufe Ute und Nils an, um ihnen die frohe Nachricht mitzuteilen, dass sie niemanden in die Wohnung lassen dürfen«, sagte Thomas und stand auf.
»Susanne, versprich mir eins: Wenn du Bedenken hast, uns bei dir wohnen zu lassen, sag es mir. Thomas und ich können auch in ein Hotel gehen«, begann Marion.
»Versprochen. Aber nun spann mich nicht länger auf die Folter und erzähl. Ich frage mich seit Tagen, was eigentlich los ist – und warum Thomas hier ist. Ich dachte, ihr hättet euch getrennt?«
»Haben wir auch. Lass mich von vorn anfangen.«
Nachdem Marion ihren Bericht beendet hatte, nahm sie das Kästchen aus dem Paket und stellte es mitten auf den Tisch.
» Voilà. Hier ist der Verursacher meiner Schwierigkeiten«, sagte sie. »Über zweitausend Jahre alt.«
Als Thomas das Kästchen öffnen wollte,
Weitere Kostenlose Bücher