Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
zurück ins Licht gekommen. Er hatte nichts Neues erfahren, aber sein Besuch hatte ihm einmal mehr vor Augen geführt, in welchem Elend viele Kinder aufwuchsen. Das Leben in dem Haus musste erdrückend gewesen sein: sieben Geschwister und ein liebloser Vater, der alle Probleme mit Schlägen löste. In den Akten stand, dass Yakub die Schule nach sechs Jahren abgebrochen hatte, mit einer grauen und perspektivlosen Zukunft vor sich. Yakub hätte Li Yandao leidgetan, wäre nicht die Geschichte mit dem Mädchen aus Yengisar gewesen. Nach Li Yandaos Auffassung war es unentschuldbar, dass er sich aus dem Staub gemacht und Aisha ihrem Schicksal überlassen hatte.
Eine Frau, die ihn argwöhnisch beobachtet hatte, eilte in ihren Hof zurück und knallte die Tür hinter sich zu, als Li Yandao den Weg hinunterschlenderte. Er war noch nie auf so viel Ablehnung und Misstrauen gestoßen wie hier. Als hätte das gesamte Dorf ein schlechtes Gewissen.
Ein kleiner Trampelpfad führte zwischen zwei Häusern hindurch in die Felder. Li Yandao folgte ihm bis zu einer Müllkippe. Er umrundete den Abfall und stand schließlich am Rand eines abgeernteten Feldes, an das sich ein von Trauerweiden umrahmter Weiher anschloss. Einige große weiße Enten wackelten in ordentlicher Reihe hintereinander her um den Weiher. Li Yandao atmete tief durch. Nach der bedrückenden Atmosphäre in dem Dorf lag eine der lieblichsten und friedlichsten Landschaften vor ihm, die Xinjiang zu bieten hatte. In den Feldern der Oasen war es leicht, die Wüste zu vergessen. Er beschloss, einen Spaziergang zu machen und die Augen nach den Ruinen des alten Khotan aufzuhalten. Bis zu seiner Verabredung mit Batügüls Mann hatte er noch mehrere Stunden Zeit.
Die Ruinen waren entweder längst zu Staub zerfallen, oder man musste tief graben, um auf Überreste der alten Zivilisation zu stoßen. Li Yandao konnte nicht den kleinsten Hinweis entdecken, dass einst an dieser Stelle eine große Stadt gestanden hatte. Dafür fand er hinter einer dichten Hecke einen geschützten Platz und legte seine dicke Jacke auf den kalten Boden. Zufrieden streckte er sich darauf aus und blinzelte zu dem wolkenlosen Himmel empor, unter dem einige Vögel akrobatische Flugmanöver ausführten. Li Yandao suchte in seinem Gedächtnis erfolglos nach dem Namen der Vögel. Wenn es um Naturkunde ging, war er ein hoffnungsloser Fall. Er war schon stolz darauf, dass er die Enten an dem Teich erkannt hatte.
Die Augen fielen ihm zu. Ein Mittagsschläfchen war genau das Richtige, um einen Urlaub zu beginnen.
Li Yandao erwachte, weil sich zwei Männer auf der anderen Seite des Gebüschs unterhielten. Er wollte gerade auf sich aufmerksam machen, als einer der Männer seinen Besuch bei Siddiq erwähnte. Li Yandao blieb bewegungslos liegen und spitzte die Ohren.
»Was wollte der Polizist?«, fragte der zweite Mann.
»Siddiq sagte, dass er ihm dieselben Fragen gestellt hat wie der Fettkloß aus Khotan.«
Der Fettkloß? Wei Weidian?
»Warum?«
»Woher soll ich das wissen? Siddiq hat ihn mit denselben Antworten abgespeist, und er ist gegangen. Sein Auto steht noch im Dorf, also wird er hier irgendwo herumlaufen. Hoffentlich verschwindet er bald. Ein Schnüffler aus Kashgar hat uns gerade noch gefehlt.«
»Hat Siddiq schon Hakim Bescheid gesagt?«
»Bestimmt.«
»Besser wäre es. Aber komm jetzt, wir müssen die Gänse zusammentreiben. Sie sind am Teich.«
Die Stimmen entfernten sich. Li Yandao spähte zwischen den Büschen hindurch, konnte aber nur noch die Rücken der Männer sehen. Gänse? Also keine Enten, dachte er beschämt.
In dem Dorf war also tatsächlich etwas faul. Li Yandao hatte keine Ahnung, ob die Machenschaften der Dorfbewohner mit dem Mordfall zu tun hatten, aber er würde es herausfinden. Er schlug sein Notizbuch auf und kritzelte einen Namen hinein: Hakim. Sobald er zurück in der Stadt war, musste er Weidian fragen, was hier vor sich ging.
* * *
»Das Dorf liegt ganz in der Nähe der alten Stadt Khotan«, begann Wei Weidian, während er mit Genuss auf einem Hühnerfuß herumkaute. Yandao hatte ihn auf dem Weg zur Kantine abgefangen, es war Zeit für einen nachmittäglichen Snack.
»Das sagtest du schon, aber ich habe keine einzige Ruine gesehen.«
»Kein Wunder. Das alte Khotan ist unter einer dicken Schicht Schwemmland im wahrsten Sinne des Wortes verrottet, nur Dinge aus Metall oder gebranntem Ton haben die Jahrhunderte überdauert. Die Bauern der Umgebung stoßen von Zeit zu
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