Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Dunhuang im westlichen Teil der Wüste Gobi aufhielt, um nach einem ersten, erfolglosen Feldzug ins Ferghana-Tal neue Anweisungen und eine Verstärkung seiner Armee abzuwarten.
Den Aufzeichnungen des Geschichtsschreibers Sima Qian (145–86 v.Chr.) ist zu entnehmen, dass der General ein Jahr später erneut die Pässe des Tian Shan überschritt, die Stadt Ershi im Ferghana-Tal belagerte und einnahm (Shiji, Kap. 123). Aus diesem Feldzug brachte er die von den Chinesen dringend benötigten ›Himmlischen Pferde‹ zurück nach Chang’an. Da die Chinesen selbst nur über minderwertige Ponys verfügten, waren diese Himmlischen Pferde – eine Rasse, der übernatürliche Kräfte zugeschrieben wurden – für die Chinesen unersätzlich in ihrem Bemühen, die Reitervölker des Nordens hinter die Grenzen zurückzudrängen.
Es sei zu erwähnen, dass General Li Guangli im Jahre 90 v.Chr. – als Folge der Hinrichtung seiner gesamten Familie auf Anweisung des Kaisers – zu den Xiongnu überlief (Shiji, Kap. 110). Der Inhalt der Botschaft, die weder bei Sima Qian noch in anderen Quellen der frühen Han-Dynastie erwähnt wird, birgt einige Überraschungen und liefert unter Umständen eine zusätzliche Erklärung für die gnadenlose Ausrottung der Familie des Generals.
Zusammengefasst lautet die Botschaft des Kaisers an seinen General, dass dieser nach der Eroberung des Königreichs Dayuan dessen Hauptstadt in den Händen eines hohen kaiserlichen Beamten namens Zhao Shan zurücklassen sollte. Der General selbst erhielt den Auftrag, mit dem größeren Teil seiner Armee weiter nach Westen zu drängen und die dort befindlichen Königreiche dem Chinesischen Reich einzuverleiben. Eventuell würde er auf die Da Qin stoßen. Dort sollte der General auskundschaften, inwieweit das Reich der Da Qin dem Mittleren Königreich nützlich sein oder ob man es sogar unterwerfen könne.
Die Chinesen bezeichneten ein Volk im Westen als die Da Qin, die ›Großen Qin‹. Es gilt als sicher, dass mit diesem Ausdruck die Römer gemeint waren, die über Mittelsmänner Seide aus China bezogen und ihrerseits Glaswaren und Ähnliches über Zwischenhändler in das Reich der Mitte exportierten – wobei die Handelspartner nur eine äußerst vage Vorstellung voneinander hatten.
Bei dem Größenwahn des Wu Di, der aus jeder Zeile der Botschaft herauszulesen ist (und der ihm auch durchaus zuzutrauen ist), lassen sich aus dem Fund faszinierende Hypothesen ableiten:
Der Bote muss auf seinem langen, gefahrvollen Weg von der Hauptstadt Chang’an bis in die Wüstenoase verschollen sein. Sei es, dass ihn Räuber überfielen, die in den westlichen Randgebieten die Wege unsicher machten, sei es, dass er verunglückte oder von einer oppositionellen Gruppe abgefangen und ermordet wurde.
Was aber wäre geschehen, wenn die Nachricht den General erreicht hätte?
Das plötzliche Auftauchen des chinesischen Heers hätte unzweifelhaft das ohnehin fragile Gefüge in Zentralasien weiter destabilisiert und eine Welle von Flüchtlingen vor sich hergetrieben. Unter Umständen hätte diese Flüchtlingswelle eine Völkerwanderung in Gang gesetzt, eine Völkerwanderung in westlicher Richtung, wie sie fünfhundert Jahre später mit dem Auftreten der Hunnen zu beobachten war.
Hätte Rom, im zweiten und ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung noch weit von dem Höhepunkt seiner Macht entfernt, dem Ansturm standhalten können? Was, wenn Li Guangli die Küsten des Mittelmeers erreicht hätte? Wäre er in friedlicher Absicht gekommen? Wie hätte sich sein Erscheinen auf die Geschichte Europas und Asiens ausgewirkt?
Nicht minder gravierend wären die Auswirkungen eines derartigen Unternehmens auf das Chinesische Reich gewesen: China hätte zwangsläufig immer mehr Soldaten nach Westen senden müssen, die dann gefehlt hätten, um seine nördlichen Grenzen gegen die Xiongnu-Nomaden zu verteidigen. In der direkten Folge erscheint ein Zusammenbruch des Chinesischen Reichs nicht unmöglich.
Der Fund der Bambustafeln kann also als eine spannende Herausforderung für Historiker in beiden Erdteilen angesehen werden.
Das Fragment des Jadepferdes, welches mit den Bambustafeln in einem Lackkästchen durch die Zeit reiste, ist das fehlende Gegenstück zu einer im Historischen Museum von Shaanxi, Xi’an, ausgestellten zerbrochenen Pferdefigur. Die Inschrift der vollständigen Figur erklärt den Status des Li Guangli in der kaiserlichen Armee sowie die Hoffnung, die in seine Mission
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