Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
gesetzt wurde: ›Li Guangli, ermächtigt von dem Sohn des Himmels zum Befehlshaber der Streitkräfte, um den Westen zu erforschen, zu erobern und zu befrieden und seine Reichtümer den Menschen des Reiches der Mitte zuzuführen (…).‹
Damit ist ebenfalls geklärt, dass es sich nicht um eine verborgene Nachricht handelt, die zu einem ›Schatz‹ im ›Westen‹ führen könnte, wie die Textfragmente auf dem bisher bekannten Hinterteil der Figur suggerierten.
Auf der Rückseite der Figur ist der Name des Kaisers Wu Di eingraviert.
Aller Wahrscheinlichkeit nach besaß General Li Guangli den hinteren Teil der Pferdefigur, während das Vorderteil im Kaiserpalast aufbewahrt wurde, um es gegebenenfalls einem Boten als ›Ausweis‹ zu geben, der die Echtheit der Nachricht bestätigte. Dies war in der Zeit der ›Streitenden Reiche‹ (475–221 v.Chr.) eine gängige Praxis der Herrscher, um ihre Armeen kontrollieren zu können. Die vorliegende Figur ist die erste mit dieser Funktion aus einer späteren Periode.«
Marion hörte auf vorzulesen und ließ das Blatt sinken.
»Was sagst du dazu?«
»Das ist ein Hammer«, sagte Susanne. »Wenn ich es richtig verstanden habe, wollte der olle Kaiser seine Krieger losschicken, um für China die Welt zu erobern.«
»So in der Art. Und wenn der General die Botschaft erhalten hätte, wäre es ihm vielleicht sogar gelungen. Die Welt, wie wir sie kennen, wäre niemals entstanden.« Marion verstummte. Die Vorstellung war ungeheuerlich. Die europäische Geschichte hätte einen völlig anderen Verlauf genommen, Europas Kultur wäre schon früh dem Einfluss der Chinesen ausgesetzt gewesen. Hätte Rom sein Weltreich aufbauen können? Und wenn nicht, was wäre dann mit dem Rest Europas geschehen? Professor Kirschner hatte wirklich nicht zu viel versprochen. Die Möglichkeiten, die sich plötzlich auftaten, waren schwindelerregend.
Susanne hatte den Faden ebenfalls weitergesponnen. »Unsere Urururahnen hätten ganz schön blöd geguckt. Die haben zu der Zeit noch auf den Bäumen gewohnt. Dann wären wir jetzt alle Chinesen.«
»Wir würden anders aussehen, hätten eine andere Religion, eine andere Sprache, würden anders denken.«
»Es ist eine seltsame Vorstellung. Und nicht unbedingt eine schlechte«, sagte Susanne nachdenklich. »Ich werde Professor Kirschner in den nächsten Tagen anrufen und um ein Exklusivinterview bitten, sobald er so weit ist, an die Öffentlichkeit zu treten. Das wird zwar meine Modetanten nicht beeindrucken, aber es gibt ja noch andere Zeitschriften. Apropos Professor Kirschner. Eine Frage hat er überhaupt noch nicht beantwortet: Wie ist die Botschaft nach Kashgar gelangt?«
»Wer weiß, durch wie viele Hände sie gegangen ist, bevor ich sie gefunden habe.«
»Gefunden? Geklaut umschreibt es besser, oder?«, sagte Susanne lachend. »Aber du hast wahrscheinlich recht. Wir werden nie erfahren, was wirklich passiert ist – was ich ziemlich schade finde. Ich verstehe jedenfalls langsam, warum Nikolai nicht aufgibt. Aber da fällt mir noch etwas ein: Wo ist eigentlich Ferghana?«
»In Usbekistan. Hast du einen Atlas?«
Susanne erhob sich. »Ich hole ihn.«
Sie war schon auf dem Flur, als sie den Kopf noch einmal um die Ecke steckte.
»Hast du gerade ›Usbekistan‹ gesagt? Der Russe ist übrigens gar kein Russe, sondern stammt aus Usbekistan. Das hat er zumindest behauptet.«
Usbekistan? Es würde erklären, warum sich Nikolai in Xinjiang herumtrieb. Nach asiatischen Maßstäben war es gleich nebenan.
Susanne kehrte mit dem Atlas zurück, und sie vertieften sich in die Karte von Zentralasien.
Das Telefon klingelte.
»Bestimmt für dich. Geburtstagswünsche«, mutmaßte Susanne.
»Ich will keine Geburtstagswünsche. Mein Geburtstag fällt dieses Jahr aus!«, rief Marion in Richtung des Telefons. Das Telefon klingelte unbeeindruckt weiter.
»Ich komme ja schon.« Sie ging in den Flur und nahm den Hörer ab. »Hallo, hier ist Marion.«
»Alles Liebe zum Geburtstag, Ma Li Huo.«
Marion wurden die Knie weich. Sie lehnte sich gegen die Wand. Er war ihr mit dem Anruf zuvorgekommen.
»Yandao!«
»Überrascht?«
»Und wie! Wieso kennst du mein Geburtsdatum?«
»Berufsgeheimnis. Es ist schön, deine Stimme zu hören«, sagte Yandao.
Ein warmer Schauer lief Marion den Rücken hinunter. Yandaos Stimme brachte den Abschiedsabend in Kashgar so lebendig zurück, als wäre es erst gestern gewesen.
»Ich freue mich, dass du anrufst«, murmelte
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