Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
der reichen Leute gehörten; die armen Bauern hatten einfache Lehmhütten gehabt, die längst zu Staub zerfallen waren.
Die Sonne neigte sich schon zum Horizont, als seine Hacke einen mumifizierten menschlichen Arm freilegte. Dulcan sah entsetzt auf die graubraune, vertrocknete Haut; in seinem Nacken stellten sich alle Härchen auf. Bisher hatten sie keine Toten gefunden, und er hatte Stein Beg sagen hören, dass die Bewohner die Stadt vor über tausend Jahren verlassen hatten. Wer war der Unglückliche, der in diesem Haus von den Sandmassen begraben worden war?
Es dauerte lange, bis sich Dulcan überwinden konnte, weiterzuarbeiten. Während er seine Hacke vorsichtig neben dem Arm in den Sand senkte, befürchtete er jeden Augenblick, dass sich der Geist des Toten auf ihn niederstürzen würde. Schweißtropfen liefen ihm in die Augen. Er schwitzte, obwohl die tiefstehende Sonne gegen die herankriechende Abendkälte nichts ausrichten konnte. Dulcan legte seine Hacke beiseite und hob mit beiden Händen den Sand aus der Grube. Winzige Papierschnipsel und morsche Knochenfragmente kamen mit jeder Handvoll Sand ans Licht, aber sobald er sie berührte, zerbröselten sie.
Dulcan arbeitete wie ein Besessener. Seine Finger waren steif vor Kälte, aber er gab nicht auf, bis er auf den gruselig anzuschauenden Schädel des Toten stieß. Die Haut hatte sich in Fetzen erdbrauner, ledriger Stücke verwandelt, die kaum an dem Schädel hafteten. Der lippenlose Mund mit den gelben Zähnen war halb geöffnet, und es schien Dulcan, als würde ihm ein Stöhnen entweichen, ein Stöhnen alt wie die Welt, hoch und unheimlich. Aber es war nur der Wind, der den Sand vor sich hertrieb. Die Ohren fehlten, und die Augenhöhlen waren sandverkrustete dunkle Flecke. Dulcan konnte den Anblick kaum ertragen, doch dann sah er einen kleinen rechteckigen Gegenstand unter dem Schädel hervorlugen. Er zog den Gegenstand aus dem Sand und stieß dabei in seiner Aufregung gegen den Totenschädel, der in mehrere Teile zerfiel. Mit einem entsetzten Aufschrei sprang Dulcan aus der Grube und rannte in die Wüste davon.
Dulcan irrte verzweifelt in den totenstillen Dünen umher. Unzählige Sterne standen an dem pechschwarzen Himmel, aber sie boten ihm keine Orientierungshilfe; er hatte sich nie weit von seinem Dorf entfernt, und die Kunst des Sternelesens war ihm fremd. Er kämpfte sich auf die nächste Düne, wie er schon Dutzende zuvor erklommen hatte, aber wieder wurde er enttäuscht: In seiner blinden Flucht hatte er sich so weit von der versunkenen Stadt fortbewegt, dass er keinerlei Anhaltspunkte mehr entdeckte, die ihm den Weg zum Lager weisen konnten. Mit klappernden Zähnen sank er auf dem Kamm der Düne nieder. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf den Sonnenaufgang zu warten. Dulcan wickelte sich fest in seinen Mantel. Die Kälte lähmte seine Glieder, und er fragte sich, ob er den Morgen noch erleben würde.
* * *
Wind heulte, Sand peitschte ihm ins Gesicht. Dulcan senkte den Kopf und versuchte, dem Sturm zu entfliehen. Jemand packte ihn am Arm, und er fuhr herum. Eine Mumie in einem zerrissenen Gewand stand hinter ihm und bewegte den Kiefer, als würde sie sprechen, aber der Sturm wehte die Worte davon. Als sich Dulcan losmachen wollte, grub der Tote seine Finger mit erstaunlicher Kraft in sein Fleisch und ließ ihn nicht gehen. Dabei schwankte der grässliche Schädel unaufhörlich von einer Seite zur anderen.
Dulcan fuhr hoch. Mit klopfendem Herzen sah er sich um, darauf gefasst, in die leeren Augenhöhlen des Toten aus der versunkenen Stadt zu blicken.
Eine Frau trat zu seinem Lager.
»Dulcan? Bist du wach?«, fragte sie leise.
Nur langsam begriff Dulcan, dass er geträumt hatte. »Mutter?«
Die Frau strich ihm leicht über die Stirn. Seine Haut fühlte sich trocken und kühl an. »Allah sei Dank! Du bist zu den Lebenden zurückgekehrt«, sagte sie.
»Bin ich zu Hause? Nicht in der Wüste?«
»Du bist schon viele Tage hier. Du hattest schweres Fieber.«
»Wie bin ich hierhergekommen? Was ist geschehen? Ich habe mich verirrt. Turdi …«
»Ja, Turdi hat dich am nächsten Morgen gefunden. Du warst nur ein kurzes Stück vom Lager entfernt und nicht mehr bei Sinnen. Der Ausländer hat dich dann mit einem seiner Männer und einem Esel zurückgesandt. Als sie dich hier ablieferten, warst du beinahe tot.«
Dulcan schloss die Augen. Erinnerungsfetzen wirbelten durch seinen Kopf. Die endlos lange Nacht. Die unerträgliche Kälte.
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