Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
dem dunkelgrauen Dämmerlicht des frühen Morgens nur darauf warteten, zu fauchendem und zischendem Leben zu erwachen. Fröstelnd sah sich Marion um, aber auf dem müllübersäten Platz waren nur wenige Passagiere mit großen Taschen unterwegs, die alle auf eine Ecke am anderen Ende des Busbahnhofs zustrebten. Große Öllachen zwangen die Schwerbepackten immer wieder, von ihrem geraden Kurs abzuweichen, und Marion kam es vor, als zelebrierten sie einen rituellen Tanz, langsam, bedächtig, unverständlich.
Eine Windböe wirbelte eine zerfetzte schwarze Plastiktüte gegen Marions Beine. Sie schüttelte die Tüte ab, verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte. Yandao würde nicht kommen. Wahrscheinlich war er nach ihrem gestrigen Abschiedsessen ebenso verkatert und übermüdet wie sie. Nach einem letzten suchenden Blick in das spärlich beleuchtete Abfertigungsgebäude mit seinen gitterbewehrten Fahrkartenschaltern schloss sie sich der Polonaise der Fahrgäste an.
Ihr Bus war mit Sicherheit der älteste und klapprigste auf dem gesamten Areal. Resigniert schob Marion ihren Rucksack in den schmutzigen Bauch des Gefährts und suchte sich dann einen freien Platz. Kurz darauf kletterte ein weiterer Passagier herein und setzte sich neben sie. Der Mann, ein etwa vierzigjähriger Uighure, trug einen abgewetzten Blazer und roch stark nach Schweiß. Unter seiner dunkelgrauen Schiebermütze lugten ungewaschene Haare und ein Strohhalm hervor. Sein Blick huschte unruhig durch den Bus, während er mit den Händen nervös eine Stofftasche knetete und in regelmäßigen Abständen in den Mittelgang spuckte. Angewidert rutschte Marion so weit wie möglich von ihm weg, was leider nur eine wenige Zentimeter breite Lücke zwischen ihnen entstehen ließ, die er sofort ausfüllte.
Kurz darauf waren alle Plätze besetzt. Der Busfahrer ließ den Motor an, und sie rollten langsam auf die Hofausfahrt zu. Marion entdeckte einen winkenden Mann, der den Bürgersteig entlangrannte, direkt auf den Bus zu. Als der Mann durch den Lichtkegel einer Straßenlaterne lief, fuhr Marion wie elektrisiert auf. Es war Yandao. Jetzt hatte er den Bus erreicht und suchte hektisch die Fenster ab.
Marion klopfte wie verrückt gegen das Fenster. Die Menschen in ihrer Nähe drehten sich neugierig zu ihr herum, aber sie bemerkte es nicht. Sie presste ihr Gesicht gegen die kalte Glasscheibe, und endlich trafen sich ihre Blicke. Yandao versuchte ein Lächeln, aber es misslang gründlich. Er sah mindestens so traurig aus, wie Marion sich fühlte.
Der Bus bog auf die Hauptstraße, aber Yandao machte keine Anstalten, ihn anzuhalten, und auch Marion blieb stumm. Um den Blickkontakt mit Marion nicht zu verlieren, war Yandao wieder losgerannt. Bald konnte er nicht mehr Schritt halten und blieb unter einer Straßenlaterne stehen, eine verlorene Gestalt auf einer großen, leeren Straße. Er winkte nicht mehr, stand einfach nur da und sah dem Bus nach.
Als er immer kleiner und kleiner geworden und sein Umriss mit der Umgebung verschmolzen war, deckte sich Marion mit ihrer Jacke zu und zog die Kapuze verkehrt herum übers Gesicht. Niemand sollte sehen, dass sie weinte.
Zwanzig Minuten später hatte sie sich weit genug beruhigt, um sich wieder unter der Jacke hervorzutrauen. Mittlerweile war es hell geworden. Marion starrte aus dem Fenster, um sich von ihrem Kummer abzulenken. Die Oasenbewohner begrüßten den neuen Tag: Hier ein junger Mann mit schnellem, zielgerichtetem Schritt, auf dem Kopf das weiße Scheitelkäppchen der Moscheegänger, den fest zusammengerollten Gebetsteppich unter den Arm geklemmt. Dort drei Männer, die sich scheinbar ratlos über die geöffnete Motorhaube eines vorsintflutlichen Autos beugten; daneben ein Esel, weiße Atemwölkchen vor den Nüstern. Die Sonne war gerade aufgegangen, schien durch die engstehenden Pappelstämme und verwandelte das geduldige Grautier in ein Zebra aus hellen Licht- und dunklen Schattenstreifen. Dann eine Frau mit einem Handkarren voller Tomaten, wohl auf dem Weg zum nächsten Markt. Kleine Jungen mit großen, kreisrunden Brotlaiben unter dem Arm, alte Männer auf noch älteren Fahrrädern, Mütter, die ihren halbwüchsigen Töchtern die langen Haare zu vielen dünnen Zöpfen flochten. Die Oase erwachte, und Marions Traurigkeit verstärkte sich.
Am liebsten wäre sie ausgestiegen und hätte sich zu einer kleinen Gruppe gesellt, die vor einem Haus dampfende Becher mit Tee serviert bekamen. Nach dem Tee würde sie
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