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Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Titel: Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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sich eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt organisieren. Und dann … ja, was dann? Sie sah sich auf Yandao zulaufen, der noch immer auf dem Bürgersteig vor dem Busbahnhof stand. Sie würden irgendwohin gehen, aber wohin? Selbst meine Träume enden im Nichts, dachte Marion bitter, wie soll dann erst die Realität aussehen? Sie wusste es besser: Abschiede gehörten dazu. Getrieben von ihrer Rastlosigkeit und dem Hunger auf Neues hatte sie auf ihren Reisen immer und immer wieder Abschied nehmen müssen, Abschied von wunderschönen Orten, die sich bereits ein wenig wie Heimat angefühlt hatten, Abschied von Bekannten, die Freunde hätten werden können. Aber sie war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass sie, ausgerechnet hier in Kashgar, von einer Verliebtheit Abschied nehmen musste, aus der – vielleicht – mehr hätte wachsen können. Stopp, befahl sich Marion. Nicht weiterdenken. Yandao ist Vergangenheit, Kashgar ist Vergangenheit, der Tote in der Baugrube ist Vergangenheit. Und das ist auch gut so. Trotzdem versteckte sie sich sicherheitshalber wieder unter ihrer Kapuze.

    Ein heftiger Stoß in die Seite riss Marion aus einem unruhigen Schlaf. Sie zog sich die Kapuze vom Gesicht und sah sich verwirrt um. Der Mann neben ihr war aufgesprungen und hatte zu einer lautstarken Rede angesetzt, die sich in Marions Ohren wie Jahrmarktsgeschrei anhörte. Sie hatte sich nicht getäuscht: Sobald sich der Mann der Aufmerksamkeit der anderen Passagiere sicher war, holte er drei abgegriffene Spielkarten aus seiner Tasche – zwei Kreuz Sieben und eine Herz Neun. Der Mann war drauf und dran, das Landvolk mit einer Variante eines uralten Wettspiels übers Ohr zu hauen, bei der er die verdeckten Karten so lange hin und her schob, bis jemand seinen Einsatz machte und versuchte, die Position der einzelnen Karte zu bestimmen. Was in den allermeisten Fällen nicht gelang. Es dauerte nicht lange, bis sich Wettwillige fanden. Marion traute ihren Augen nicht: Fünfzig- und Hundert-Yuan-Scheine wechselten die Besitzer in schneller Folge. Wie konnten die Bauern so naiv sein?
    Ihr Sitznachbar gewann erwartungsgemäß, und die Stimmung heizte sich auf. Die Passagiere grölten streitsüchtig durcheinander. Marion wurde mulmig zumute. Die Gesichter der Männer verzerrten sich zu hasserfüllten Fratzen, als der Spieler erneut gewann. Grinsend nahm er einen Fünfzig-Yuan-Schein entgegen und steckte ihn zu den anderen in seiner Hemdtasche. Doch der Verlierer hatte noch nicht genug, wedelte herausfordernd mit einem weiteren Schein. Sofort manipulierten die geübten Hände des Spielers die Karten, verfolgt von den angespannten Blicken der Männer flitzten sie in atemberaubendem Tempo auf seinen Oberschenkeln hin und her. Dann hielt er inne. Geschrei brandete auf, die Männer zeigten aufgeregt auf die verschiedenen Karten. Sie einigten sich auf die mittlere. Kreuz Sieben. Verloren. Der Verlierer begab sich mürrisch zurück zu seinem Platz. Sofort schloss sich die Lücke. Die meisten Männer drängten sich jetzt im Mittelgang. Aggressive Spannung hing greifbar in der Luft. Der unsympathische Spieler hatte sich so breit gemacht, dass er Marion gegen das Fenster quetschte. Seine Ausdünstungen waren betäubend. Sie versuchte ihn wegzudrücken, aber er reagierte nicht und ließ erneut die Karten fliegen. Marion bekam Platzangst.
    Plötzlich packte ein bulliger Mann Marions Sitznachbarn am Kragen, zog ihn hoch und schrie auf ihn ein. Der Kerl schrie zurück. Aufgebracht stieß er dem anderen das Bündel Geldscheine ins Gesicht. Ein älterer Mann presste sich durch den Gang und versuchte zu vermitteln, aber es war zu spät; die Situation war völlig außer Kontrolle. Innerhalb von Sekunden wogte eine hitzige Schlägerei durch den Bus. Marion hielt sich schützend die Arme vors Gesicht und kroch tiefer in den Sitz hinein. Nicht tief genug: Ein Ellbogen traf sie seitlich am Kinn, und sie sah Sterne.
    Dem Busfahrer riss der Geduldsfaden. Er bremste so abrupt, dass die Kontrahenten von den Füßen gerissen wurden. Der Fahrer drängelte sich laut schimpfend nach hinten durch, griff sich Marions Banknachbarn und zwei weitere Männer und warf sie aus dem Bus. Dann fuhr er mit quietschenden Reifen an. Marion blickte zurück und sah, wie der Spieler einem der anderen Männer lachend auf die Schulter klopfte. Es war der bullige Mann, der die Schlägerei vom Zaun gebrochen hatte. Was für eine Bauernfängerei, dachte Marion. Sie tastete ihre untere

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