Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
schwerer.
Lin Hong drückte seine Hand. »Ich kümmere mich darum, Herr.«
»Ich bin nicht mehr dein Herr, Lin Hong … sei vorsichtig, mein Freund … rette China …« Er atmete tief ein. Ein gurgelnder Laut war zu hören, dann nichts mehr.
Lin Hong verschloss ihm die Augen und blieb niedergeschlagen neben dem Leichnam sitzen. Zhao Shan, sein Herr, sein Meister, sein Freund, war auf dem Weg zu seinen Vorfahren.
Kurz nach Mitternacht sattelte Lin Hong zwei Pferde und belud sie mit ausreichend Lebensmitteln und Wasserbeuteln, darauf bedacht, die wenigen überlebenden Soldaten, Diener und Sklaven Zhao Shans nicht zu wecken. In einem der Packsäcke fand er Zhao Shans Staatsgewänder, rollte sie zu einem Bündel und befestigte sie an seinem Sattel. Nach kurzem Zögern nahm er die Hälfte der in einer Schatulle auf dem Wagen verwahrten Münzen, die andere Hälfte ließ er liegen. Vielleicht entdeckten die Bediensteten sie noch vor dem Offizier, der sich der verwaisten Einheit annehmen würde. Dann hob er den Körper des Hohen Sekretärs auf eines der Pferde, schwang sich auf das andere und ritt im Schutz der Dunkelheit nach Norden davon.
* * *
Lin Hong hockte sich neben die Grube und sah auf Zhao Shans Leichnam hinab. Die prachtvollen Seidengewänder lenkten von dem ausgemergelten Gesicht des Toten ab und erinnerten Lin Hong an die vielen guten Jahre, die er für den Hohen Sekretär in Chang’an gearbeitet hatte.
Zhao Shan war ein gerechter Herr gewesen, der ihn mit Respekt behandelt und ihm vertraut hatte. Lin Hong schluckte. Es war nicht nur Respekt gewesen. Seit sie an jenem unheilvollen Tag vor beinahe zwei Jahren die Hauptstadt verlassen hatten, um sich an die Fersen des kaiserlichen Boten zu heften, hatte sich zwischen ihnen eine Freundschaft entwickelt, die sich immer mehr vertiefte. Zhao Shan war ihm am Ende näher gewesen als sein eigener Vater.
Neben dem Grab standen mehrere kleine Krüge mit Lebensmitteln, eine zerschrammte Trinkschale aus rotem Lack und die Schreibgeräte des Hohen Sekretärs. Lin Hong stellte liebevoll einen Gegenstand nach dem anderen neben den Körper des Toten. Als Letztes ergriff er das kleine Lackkästchen, das er vor langer Zeit dem Boten abgenommen hatte. Er hatte es seitdem nicht mehr gesehen.
Er beugte sich in die Grube, doch bevor er das Kästchen neben Zhao Shan legte, regte sich seine Neugierde. Es musste einen Grund geben, warum der Hohe Sekretär die Botschaft nicht längst vernichtet hatte. Aufmerksam betrachtete Lin Hong das Kästchen. Es hatte seinen Herrn in diese unselige Wüste, auf diesen unseligen Feldzug getrieben und ihn schließlich zerstört – und damit auch ihn, den ergebenen Diener seines Herrn. Es war sein Recht, nachzusehen, was sich darin verbarg, bevor er es für immer vergrub.
Mit gerunzelter Stirn entzifferte Lin Hong die Schriftzeichen auf den Bambusstäbchen. Endlich verstand er, warum Zhao Shan bereit gewesen war, für dieses Kästchen sein Leben zu opfern. Lin Hong mochte sich wenig um Politik scheren, aber er hatte genug Verstand, um die Entbehrungen, das Leid und den Tod für unzählige Menschen zu erahnen, die in dieser Botschaft versteckt waren. Mit Schaudern malte sich Lin Hong die jenseits des Pferdekönigreichs Dayuan lauernden Schrecken aus. Ihm hatten schon die Schrecken dieses Feldzugs gereicht. Der Kaiser hatte die furchtbare, zerstörerische Kraft der Wüste nicht erlebt, würde sie niemals erleben, und nur dieses Unwissen konnte ihn zu einem solch hochfliegenden Plan verleitet haben. Die Götter mussten blind sein, dass sie Kaiser Wu Di das Mandat des Himmels nicht entzogen. Doch wer war er, Lin Hong, sich ein Urteil über die Götter anzumaßen? Vielleicht hatten sie seinen Herrn und ihn zu ihren Werkzeugen erwählt, um die Pläne des Kaisers zu vereiteln.
Als Lin Hong die Schachtel wieder schließen wollte, fiel sein Blick auf die zerbrochene Pferdefigur. Das rotfunkelnde Auge der Figur schien ihn höhnisch anzustarren, und plötzlich hatte er das Gefühl, dass die Botschaft selbst in Meister Zhaos Grab nicht sicher war. Er beschloss, sie aus China hinauszuschaffen. Seit sein Herr gestorben war, gab es für ihn ohnehin keinen Grund mehr, nach Chang’an zurückzukehren.
Khotan
Oktober 2004
I nsgeheim hatte Marion gehofft, dass Yandao sie verabschieden würde. Sie erwartete jeden Moment, dass er aus einer der düsteren Schluchten zwischen jenen riesigen Überlandbussen treten würde, die wie urzeitliche Panzertiere in
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