Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
abreisen lassen, wütend auf die ganze Welt. Am wütendsten war sie auf sich selbst. Warum hatte sie nur das Verbotsschild ignoriert? Sie hätte sich ohrfeigen können! Hoffentlich kam bald einer der Aufseher vorbei, um sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Sie lauschte angestrengt in die über der Geisterstadt liegende Stille.
Sie wartete noch nicht lange, als sich die Schritte von mehreren Personen aus Richtung des Klosters näherten. Kurz darauf konnte sie deutlich zwei Männerstimmen unterscheiden.
Einer der Männer nannte ihren Namen. Marion zuckte zusammen und unterdrückte den Hilferuf, zu dem sie gerade angesetzt hatte. Sie musste sich verhört haben. Es war sicher nur ein Laut gewesen, der ähnlich wie ihr Name klang. Die Männer waren in ihrer Nähe stehen geblieben und stritten sich mit erhobenen Stimmen auf Englisch. Einer der Männer war Uighure; Marion hatte den Akzent in den letzten Wochen oft genug gehört, um ihn zu erkennen. Der Uighure war sehr nervös, während sein Begleiter ruhig und beherrscht wirkte. Auch er sprach Englisch; mit einem Akzent, den Marion nicht einordnen konnte.
»Diese Marion hat offensichtlich ein Talent, sich unsichtbar zu machen«, sagte der Mann mit dem undefinierbaren Akzent. »Bist du sicher, dass sie nach Yar-Khoto gefahren ist?«
»Hundertprozentig.«
»Gut. Ich kann dir nur raten, es nicht erneut zu vermasseln«, sagte der erste Mann mit drohendem Unterton.
»Es war ein Unfall, Nikolai«, sagte der Uighure kleinlaut.
»Meinst du, die Polizei glaubt dir das? Wer leitet eigentlich die Untersuchung in Kashgar?«
»Li. Kommissar Li Yandao.«
Der Mann, der Nikolai genannt wurde, gab einen Pfiff von sich.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte der Uighure.
»Nichts und alles. Ich kenne ihn aus Xi’an. Guter Mann. Hartnäckig und unbestechlich«, sagte Nikolai kalt.
»Er tritt auf der Stelle. Der geschmierte Polizist, der uns die Hotellisten besorgt, meinte, dass sie den Fall wohl zu den Akten legen werden.«
»Hoffen wir das Beste. Immerhin hat die Polizei bisher keinen Schimmer von der Existenz des Jadepferdes.«
Marion lauschte atemlos. Sie litt tatsächlich nicht unter Verfolgungswahn: Die Männer suchten sie. Die Stimme des ersten Mannes erklang erneut.
»Lass uns weitersuchen«, sagte er zu dem Uighuren. »Ich will die Frau finden, bevor es dunkel wird. Es ist unangenehm, dass sie in diesem Schlafsaal untergekrochen ist. Dort sind zu viele Leute.«
Die Schritte entfernten sich.
Marion kauerte verstört in dem dunkler werdenden Loch. Was sollte sie tun? Dieser Nikolai jagte ihr Angst ein. Er hörte sich an wie jemand, der keine Fehler macht. Jetzt wusste sie auch, wo sie diesen Akzent schon gehört hatte: auf ihrer Russlandreise einige Jahre zuvor. Die Grenzen nach Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan lagen nicht weit von hier. Russen waren in Xinjiang keine Seltenheit.
Eine Stunde oder mehr verging. Seit die beiden Männer fort waren, hatte Marion niemanden mehr gehört, und es war mittlerweile vollständig dunkel geworden. Robert und die Amerikaner würden sie nicht so schnell vermissen, da sie sich nicht zum Abendessen verabredet hatten.
Der Sand auf dem Boden brachte Marion auf die Idee, einen Hügel anzuhäufen. Wenn sie ihn hoch genug aufschichtete, konnte sie sich vielleicht über den Rand des Loches ziehen. Mit neuem Mut machte sie sich an die Arbeit.
Es funktionierte nicht. Nur die obere Schicht des Sandes war locker, darunter war er so festgebacken wie Stein. Sie kratzte und hieb auf den harten Untergrund ein, bis ihre Knöchel bluteten, aber ihre Anstrengungen führten zu nichts. Sie saß in der Falle. Resigniert schob sie den losen Sand in eine Ecke und formte eine Mulde.
Die ersten Sterne erschienen funkelnd am Nachthimmel. Marion lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Rücken und sah durch das Loch in der Decke. In der letzten Stunde war es empfindlich kühl geworden. Eine ungemütliche Nacht lag vor ihr. Sie war froh, dass sie nicht nur ihre Jacke, sondern auch einen Fleecepullover und die Mütze in ihre Umhängetasche gestopft hatte, bevor sie aufgebrochen war. Sie drehte sich auf die Seite und zog die Jacke dichter um sich. Das Kästchen drückte gegen ihre Brust, aber sie ließ es in der Jackentasche. Auf eine Unbequemlichkeit mehr oder weniger kam es nicht an, und es beruhigte sie, das Jadepferd nahe an ihrem Körper zu spüren.
Das Rascheln war leise, aber Marion war mit einem Schlag hellwach. Ihre Augen
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