Die verborgene Grotte
einem gottverlassenen Küstenstädtchen. Da war es, als wäre das Feuer in ihm erloschen. Erst war es fast eine Erleichterung gewesen, aber nun, als alter Mann, sehnte er sich jeden Tag, jede Stunde nach den alten Zeiten zurück. Besonders groß wurde seine Sehnsucht an den Sonntagen, wenn er immer wieder dieselben alten Kirchenlieder auf dieselbe alte Weise spielte, Sonntag für Sonntag. Aber so wollten die Leute es eben haben.
Eines Sonntags, als Mikloz zum tausendsten Mal ›Eine feste Burg ist unser Gott‹ spielte, fiel sein Blick zufällig durch das kleine Fenster aufder Empore. Auf einer Bank vor der Friedhofsmauer saß ein elegant gekleideter Herr. Er trug einen Anzug mit Weste, eine kostbare Taschenuhr an einer Goldkette und er hatte einen Stock mit silbernem Knauf bei sich.
Zu dieser Zeit ging noch jeder sonntags in die Kirche. Das war sicher der Grund, warum Mikloz den Mann überhaupt bemerkte, der mit seinem Stock zum Takt der Musik, die durch die halb geöffnete Kirchentür nach außen drang, auf den Boden klopfte.
Am selben Abend, als seine Frau schon schlief, saß Mikloz noch im Schein der Petroleumlampe und dachte über sein Leben nach. Wie war es verlaufen? Gerade war er noch jung und voller Erwartung gewesen, ein Musiker, der für seine Kunst brannte, und nun war er ein alter Nichtsnutz, der in mehr als dreißig Jahren nicht ein einziges kleines Liedchen zuwege gebracht hatte. Er setzte sich ans Klavier und suchte nach einer Melodie, aber alles klang nur langweilig und unerhört düster. Dabei hatte er als junger Mann so fröhliche Stücke geschrieben.
Da klopfte es an die Tür. Draußen stand der Mann von der Parkbank.
›Verzeihen Sie, dass ich zu dieser späten Stundestöre, aber als ich vorbeiging, habe ich die Musik gehört‹, erklärte der Besucher und machte eine elegante Verbeugung. ›Sehr gut gespielt.‹
Mikloz murmelte ein Dankeschön und wollte die Tür schon wieder schließen, als der Mann seinen Fuß dazwischenschob.
›Aber ich glaube, eine gewisse Enttäuschung in Ihrem Spiel auszumachen. Es ist, als ob Sie … mehr wollen‹, fuhr der Mann fort. ›Als würden Sie etwas vermissen, etwas, das Sie vielleicht einst besessen haben. Musikalisch gesehen, meine ich.‹
Mikloz starrte den Fremden an. Woher wusste er das?
›Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen helfen. Ich verkaufe … Notenblätter.‹
Aber davon hatte Mikloz wirklich selbst genug, und die Melodien anderer zu spielen, nun, das war ja gerade das, was er nicht mehr wollte.
›Danke‹, sagte er, ›aber ich habe keinen Bedarf. Und davon abgesehen habe ich auch gar kein Geld.‹
›Ich spreche nicht von gewöhnlichen Notenblättern. Und über die Bezahlung werden wir uns schon einig werden. Darf ich hereinkommen?‹
Am Klavier öffnete der Mann seine Aktentasche und zog ein Bündel mit Blättern heraus, auf denen nichts als leere Notenlinien waren. Er stellte es auf den Notenhalter des Klaviers.
›Nun, setzen Sie sich, Mikloz.‹
›Woher wissen Sie, dass ich …‹
›Pst. Es gehört zu meinen Aufgaben, das zu wissen. Zu wissen und zu verstehen, wer was braucht. Und Sie, mein lieber Mikloz, brauchen meine Notenblätter.‹
›Aber die sind doch leer …‹
Der Mann antwortete nicht, sondern machte nur eine abwehrende Geste mit der Hand. Verwirrt setzte Mikloz sich ans Klavier und wie von selbst legten sich seine Hände auf die Tasten.
›Schließen Sie die Augen‹, sagte der Mann. ›Schließen Sie die Augen und lassen Sie all die Musik frei, die in Ihnen verborgen ist.‹
Und da passierte, was Mikloz schon so viele Jahre vermisst hatte: Die Melodien flossen aus ihm heraus wie die Tränen, die aus seinen geschlossenen Augen strömten.
›Es ist wunderbar!‹, seufzte Mikloz. ›Aber wie soll ich mir nur all die Melodien merken?‹
Statt zu antworten, stellte sich der Mann hinter ihn und öffnete ihm mit den Händen die Augen.
Das Notenblatt war nicht länger leer, und mit jedem Ton, den Mikloz spielte, erschien eine neue Note auf der Lineatur. Die Blätter drehten sich sogar von selbst um, wenn es an der Zeit war.
›Nun, kommen wir ins Geschäft?‹, fragte der Mann.
Mikloz nickte nur. Er war bereit, alles zu geben, wenn er dafür diese magischen Notenblätter besitzen durfte. Aber der Fremde wollte kein Geld.
›Ich schenke Ihnen die Schaffenskraft Ihrer Jugend zurück und verlange nicht mehr dafür als Ihre Freude.‹
Mikloz ließ sich gerne darauf ein, obwohl er nicht recht
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