Die Verborgene Schrift
sich, daß er sich hatte fortreißen lassen. Er starrte auf den Platz hinaus. Da sah er etwas, was ihn erstarren machte: Was da oben auf dem Kirchturm zuckte und winkte, was jetzt flatterte und drei breite Längsseiten zeigte, Schwarz-Weiß-Rot, das war die deutsche Fahne.
Martin Balde hielt sich unwillkürlich beide Hände vors Gesicht. Er bekam einen bitteren Geschmack im Munde, sein Herz tat ein paar sonderbare Schläge, als möchte es nicht mehr weiter. Auf einmal brach er da in dem großen, öden Saale in Schluchzen aus. Tränen, die sich schon seit Wochen bei ihm angesammelt haben mußten, strömten ihm aus den Augen.
Endlich faßte er sich zusammen. Mit noch zuckenden Lippen ging er zur Post hinüber, die Depesche an den deutschen General aufzusetzen.
In der Post traf er Célestine allein. Auf der Schranke lagen die neuen deutschen Briefmarken und die deutschen Stempel. »Sie haben mich nicht einmal angesehen, diese Barbaren!«
Sie hatte offenbar für die Prussiens in aller Eile noch einmal Rot aufgelegt, und das schwarze Spitzengekräusel ihres Mieders war voll Puder.
Balde schrieb ihr die Depesche auf, die sie befördern sollte, dabei entdeckte er des kleinen Charles verheultes Gesichtchen hinter dem Bett. Er zog ihn hervor und machte ihn lachen mit einem verspäteten Marienkäferchen, das ihm übers Papier gelaufen war.
Er hörte die Uhr schlagen. »So früh noch?« Seine eigene war dreiviertel Stunden später. Célestine nickte schmollend. »Sie han m'r d'Zitt verkehrt, ces monstres .« Balde preßte die Lippen zusammen. Er begriff. Man hatte ihnen die deutsche Zeit aufgedrängt. Es gab ihm einen unbeschreiblichen Schmerz. Er achtete nicht auf Célestine, die krampfhaft mit ihm plauderte, » Ah, ces cochons. ›Wir stehen früherauf als eure Franzosen,‹ han sie gsait, wo sie d' Uhr verstellt han. Ich han lache müsse. Enfin, c'est une affaire politique, cela ne me touche pas, tralala. «
Als Balde gegangen war, nahm Mademoiselle Célestine das Telegramm in die Hand. Ihre Augen funkelten. Ah, dies würde sie nicht für sich behalten, Quine mußte das wissen und Schlotterbach und Bourdon. Ganz Thurwiller, aber erst wenn das Telegramm unterwegs war. Ihr freilich hatten die Prussiens ganz gut gefallen, und ein paar Männer brauchte man ja wirklich in der langweiligen Stadt, aber –,« sie zog den kleinen Charles zu sich heran, »er hat dich geschlagen, cet animal, je me vengerai .«
Es war plötzlich Mittagszeit. Die Frauen hatten die Kohlsuppe noch nicht fertig und brieten die Omelette. Da schon schlug es Mittags-Zwölf. Das trieb die Frauen hinaus. Man mußte »regardez voir« . Und dann sah man! Man war starr. Die Essensstunde verändern! Welche Unverschämtheit!
Madame Bourdon stand in großer Armelschürze da und schwang den Schaumlöffel gegen die unsichtbaren Übeltäter. »Brigands, animaux, assassins!« Die Pfarrerskusine, Madame Tränkele, alle Hausfrauen und Mägde am Gerichtsplatz stimmten ein Geschrei an. »Net g'falle losse, ah! mir solle dîner à la Prusse ? Mir revoltiere, nous autres femmes .«
Zum erstenmal hatten sie verstanden, was es heißt: »Krieg«. Mit ihren breiten Röcken hin und her schwankend, sahen sie aus wie eine Ansammlung wandelnder Glocken.
Sie lärmten noch dort, als nacheinander Quine, Bourdon und Théophile Schlotterbach sich nach der Post begaben. Die Botschaft Madame Célestines hatte gewirkt.
Nachmittags lud dann die Quine zum Vesper viele Damen ein. Man wollte die Ereignisse besprechen. Die Baldes lud sie nicht. Sie schickte um Gebäck zum Bäcker-Nazi. Xavier blieb lange aus. Ein dichtes Publikum umstand ihn und flüsterte untereinander: über den Herrn Maire, der den Feind in die Stadt ruft. »Sunscht a rachter Mann!« Aber daß er den Feind in die Stadt ruft! Fäuste ballten sich. Man fluchte. Alles das berichtete er seiner Madame. Bald wußte es die ganze Stadt.
Françoise hatte die letzten Ereignisse in Thurwiller nicht miterlebt. Sie war kurz nach der Republik-Erklärung nach Sulz gefahren, um dort Frau von Meckelen bei der Einrichtung eines Lazaretts auf dem Schlosse zu helfen. Jede der beiden Frauen suchte Beruhigung für fürchterlichen Zwiespalt in dieser Kriegszeit, die Franzosen sowohl wie Deutschen zugute kommen sollte. Man hatte bereits einen Arzt verpflichtet. Krankenpflegerinnen waren berufen, man hatte sich bei den überfüllten Lazaretten des Unterelsaß gemeldet wegen Überweisung von Verwundeten. Arvède war bereits mit zwei
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