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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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lustigen Marsch spielen. Jetzt schwingtsich ein hoher, schöner Bursch zu ihnen hinauf, eine zusammengerollte Fahne tragend. Und da jetzt die Elsässer aus dem Bahnhofsgebäude heraustreten, lärmend und mit ihren Paketen, Tüchern, Schirmen, Kindern beschäftigt, entrollt er plötzlich die Trikolore und hält sie mit beiden Händen hoch in der Luft.
    Eine plötzliche Stille ist eingetreten. Die Männer nehmen die Hüte ab. Zwei zu zweien, wie bei einer Prozession, ziehen sie unter der Fahne hindurch, die leise ihren Nacken berührt, wortlos, lautlos. Ein paar Kinder falten die Hände »Bleu, blanc, rouge,« sagt ein stiller dunkelhaariger Mensch. Mit einer linkischen, unbeschreiblich rührenden Bewegung nimmt er sein zerknittertes Filzhütchen vom Kopf und weist auf die Fahne, die leise im Winde weht.
    Auch Paul fühlt Tränen in den Augen. Eine unerwartete Ergriffenheit macht ihm das Herz klopfen.
    Von oben feuerte man aufs neue, aber die Ankömmlinge blieben noch stumm. Ein seltsames Pathos hatte sich auf diese bäuerlichen Gesichter gelagert und machte sie heilig-hölzern. Sie regten sich erst, als die Musikanten auf dem Tische wieder anfingen zu blasen. Die Melodie des elsässischen Trutzliedes. Sie stimmten ein:
    »Vous n'aurez pas l'Alsace, la Lorraine,
et malgré vous nous resterons Français.«
    Aber sie sangen mechanisch, traumhaft, ohne die Radaustimmung, die man oben auf der Terrasse von ihnen erwartete.
    Und Paul begriff: Das war keine programmäßige Demonstration mehr, das war ehrliche und unwillkürliche Gemütshingabe. Der »Quatorze Juillet« , dieser froh gedankenlose Festtag der Franzosen, war den Elsässern eine heilige Sache, eine ernsthafte Erinnerungsfeier.
    Jetzt waren die Ankömmlinge alle drüben.
    »Un, deux, trois,« kommandierte einer. Sehr wider seinen Willen verriet sich in der scharfen, etwas gehackten Art dieses Kommandos preußischer Drill. Und wie mit preußischem Drill auch klang es scharf und geschlossen: »Vive la France!« Alle zugleich. Paul, mitrufend, fühlte sich plötzlich auf dieSchulter geklopft: sein Vater, der neben ihm stand, ohne daß er es in seiner seltsamen Ergriffenheit bemerkt hätte. Auch die Mutter war da. Zärtlich umarmte sie den Sohn. »Wie man dieses Frankreich liebt,« sagte sie dann leise, »jetzt erst recht.«
    Paul bemerkte mit Genugtuung, wie gut sie aussah. Die helle Seite ihres Haars hatte ein tieferes Blond bekommen, farbiger als das ihrer Jugend, das nun besser fast paßte zu den ernster gewordenen Zügen der Zweiundvierzigjährigen.
    »Wie schön du bist, maman, wie elegant du dich kleidest,« sagte Paul.
    »Merci.« Sie sah ihn liebevoll an, und er wieder versuchte in seinen Blick all die Bewunderung und Verehrung zu legen, die er empfand. Sogar noch etwas mehr. Denn er fühlte dunkel, daß seine Mutter etwas Besonderes von ihm erwartete, mehr vielleicht, als er ihr geben konnte. Denn Pauls Liebe zu Françoise war gar nichts anderes als die typische, unindividuelle, fast religiöse, fertig hergestellte, französische Verehrung für das Institut »Mutter« schlechthin. Wie sie mich liebt, diese arme, kleine Mutter, sagte er, wenn er an sie dachte.
    »Du siehst müde aus,« sagte Françoise, »du befindest dich doch wohl? Du leidest nicht?«
    »Ich befinde mich völlig wohl, maman .«
    Er zog ihre Hand an seine Lippen. Noch immer sah sie ihm besorgt nach den Augen. »Ach, wenn ich dich doch nach Hause nehmen könnte, aber das darf man ja nicht.« Sie machte eine anmutige Bewegung des Zorns gegen den Grenzposten hin. Paul reichte ihr den Arm.
    »Und Lucile?« fragte Françoise. »Siehst du sie oft?«
    Er lachte. »Sieh da, die erste Frage von petite maman .«
    Sie errötete. »Wir Mütter sind eifersüchtig, und ich verwünsche alles, was dich hindern kann, dich früh und gut zu verheiraten.«
    »Aber gerade sie will mich ja immer verheiraten. Du glaubst nicht, welche Mühe sie sich gibt mit mir.«
    »Ah, wirklich, sie will dich verheiraten?« Sie strahlte. »Gott sei Dank. Ich hatte schon törichte Sorgen. Aber freilich, sie ist nun auch schon eine alte Frau.«
    Paul sah sie von der Seite an. Die unzerstörbare Reinheit dieses Mutterantlitzes rührte ihn. »Ma pauvre petite mère,« murmelte er zärtlich und umarmte sie aufs neue.
    Pierre Füeßli trieb zur Eile. Drüben waren die Wagen bereits überfüllt. Der Zug setzte sich in Bewegung, dabei immer noch neue aufnehmend. Auf den Plattformen stießen sich die Menschen. Es war ein wüstes Gelache

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