Die Verborgene Schrift
Mittelalters, das, von dem Père Anselme ihr erzählt hat. Sie ist beleidigt, daß es nicht die derben, täppischen und kindlich gläubigen Leute von damals sind, die man zu uns herüberschickt, sondern kluge, weltläufige Männer, die ihren Weg machen wollten. Sie vergißt auch, daß es nicht das ganze Deutschland ist, das man hier bei uns kennenlernt. Wir bekommen ja nur Beamte und Militär zu sehen, aber weder ihre Handwerker noch ihre Bauern; gerade die Stände also, in denen das Volkstum immer am festesten sitzt.«Paul sah ihn verwundert an. »Wie du gerecht bist, Papa. Niemand sonst im Elsaß, scheint mir, würde es wagen, so zu reden.«
»Niemand.« Françoise nickte ihm zu. »Papa ist eben Optimist. Ich bin glücklich darüber. Wie oft hat er mich damit erfrischt!«
Pierre lachte laut. »Ich habe mir ein gewisses Deutschtum angeschafft als Beruhigungsmittel für maman .«
»So hatte ich also meinen Mann fast zum Deutschen und meinen Sohn ganz zum Franzosen gemacht,« sagte Françoise leise. Sie stand auf, da man jetzt die Tram von Gérardmer heraufkommen sah. »Man schwatzt so vieles an solchem Wiedersehenstag,« sagte sie und zog sich ihre Ärmel glatt.
Inzwischen war von Gérardmer her ein Omnibus angelangt. Eine Anzahl Leute, meist elsässische Bauern, hatten sich bereits der eben einfahrenden Tram bemächtigt, kletterten auf die Trittbretter, hingen sich an den Wagen, und so waren die Abteile wiederum überfüllt, als die Füeßlis einstiegen.
Drinnen quetschte man sich ineinander, so gut es gehen wollte. Man konnte kaum atmen. Dazu roch es nach Zwiebeln und Schweiß. Die Rosmarinsträußchen der Frauen sandten ihren Duft zwischen Lilien und Münsterkäse hinein. Viele hielten die rundgelben Käseräder uneingewickelt zwischen ihren Knien. Sie brachten sie den französischen Verwandten mit. Pierre und Paul standen. Françoise saß zwischen zwei pfeifenrauchenden, breiten Männern, die sich über sie hinweg damit unterhielten, die Weine aufzuzählen, die sie in Gérardmer in der Brassens Gyß kosten wollten, »denn daheim im Elsaß, bon soir, zitter daß d' Schwowe im Ländle sin, zitter g'rotet d'r Win net mehr rächt.«
Paul hörte zwei jungen Mädchen zu, die sich umfaßt hielten und miteinander wisperten. Die eine hatte eine bunte französische Postkarte gekauft, auf der eine Art fliegender Jeanne d'Arc mit mächtiger Siegesfahne die Fesseln einer knienden Elsässerin löste. In der Schlupfenhaube saß die französische Kokarde. »Le rêve d'Alsace« stand darunter.
Das hübsche Mädel buchstabierte an dem französischen Vers herum, der auf der Fahne stand.
»Fais tomber la chaîne avec ton épée,
o France, en tes gloires drapée.«
»Die Kart' schick i 'm Finele. Meinsch, das wird griengäl vor jalousie , wann's d'r timbre sieht üs'm Frankrich.«
Die andere, feiner und sanfter, nickte still. »Un i schreib' 'm Babbe. 'r het nit mit könne, sin Chef het'm d' permission net gawe.«
»Ah, un was isch das jetzt fir a métier , wo er het?«
»Schriewer isch er bim ditsche gouvernement , z' Stroßburg. Scho meh as zwanzig Johr.«
Die andere schwieg eine Weile. »Er verdient probablement a scheen Gald?«
Sie wartete die Antwort nicht ab. »Kiklons, Madeleine,« rief sie aufgeregt. »Jetz sin m'r driewe. Jetz het's do culottes rouge . Paß uff, 'm erschte piou-pou , wo i gsieh, fall i grad um d'r Hals, tu verras .«
»'s ganze Johr denkt m'r net an so Sach,« sagte eine ältere Frau im Stadtputz, aber mit der Bauernhaube, zu Françoise. »Awer am Quatorze Juillet , do gibt's kei Halt meh, do ziegt's eim ins Frankrich. Sie han eim viel misère g'macht in dere franzeesche Zitt, meh misère, peut-être , als m'r jetz han, wo m'r ditsch sin. Mais que voulez-vous , m'r isch jung g'si sellemol, un isch jetz alt. Sell sucht m'r halt Widder do drüwe, 's Jungsin.«
Françoise hatte sich weit zurückgelehnt. Sie war froh, nicht sprechen zu müssen. Nachdenken wollte sie. Sich klar werden.
Und da gewahrt sie denn, daß eigentlich ihr ganzes bisheriges Leben bestimmt worden ist von jener einen verhängnisvollen Minute an der kleinen steinernen Pforte zu Nancy. Ihre Ehe hat sie geschlossen im Zorn gegen den andern, ihren Sohn zum Nicht-Deutschen erzogen, um keine Gemeinschaft mehr zu haben mit jenem. Immer, bei allen entscheidendenFragen, ist es der Gedanke an Heinrich Hummel gewesen, der sie geleitet hat.
Nicht etwa, daß sie ihn noch liebte, o nein! Die Vereinigung mit Pierre, anfangs locker und
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