Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
Vom Netzwerk:
aber diese Enttäuschung so furchtbar machte, war der Gedanke: sie selbst sei schuld an Pauls ungünstiger Seelenentwickelung. Warum hatte sie ihn von sich weg und an Frankreich gegeben!
    »Was hast du, maman, du siehst auf einmal ganz blaß aus. Leidest du?« Er nahm ihre Hand. Sie entzog sie ihm schnell.
    »Nein, nein, ich bin nur ein wenig müde. Du weißt, ich schließe dann gern ein Weilchen die Augen.« Und, um einen Scherz zu machen, fügte sie hinzu: »Ich sehe in mich hinein.«
    Ihr Mund verzerrte sich. O ja, sie sah in sich hinein! Jäh und grausam war ihr, während sie hier saß, die Antwort gekommen auf ihr Warum von vorhin.
    Warum sie Paul an Frankreich gegeben hatte? O, nicht um seinetwillen. Nicht um ihn glücklicher, besser dadurch zu machen. Nein! Sich selbst hatte sie erlösen wollen vom Deutschtum. Lösen von der Kette der Erinnerungen. Das ist's gewesen.Wie die Sünderin, die zu ihrer eigenen Entsühnung ihr Kind dem Kloster gelobt, hatte sie ihren Sohn dazu benutzen wollen, sich zu reinigen und zu entlasten.
    Sie hörte neben sich Paul plaudern und gab mechanisch Antwort, immer mit gesenkten Augen, während sie rang mit dieser neuen grausamen Erkenntnis.
    »Ja und ist es denn ein Wunder,« sagte Paul, »wenn man gern an seine Kindheit zurückdenkt?« Er hatte die Empfindung, er müsse mit seiner Mutter sentiments reden, dürfe sie nicht von Boulevard und Café unterhalten.
    »Mit Rührung erinnere ich mich der reizenden Landpartien da in eurem Elsaß, die wir in meinen Ferien miteinander unternahmen. Die altväterischen Walzer auf den Tennen, die drolligen alten Dreispitze. Ich sehe sie noch vor mir, die Männer in ihren langen Röcken und die Mädchen in ihren kurzen. Ah, und das Biertrinken oder der blonde, kühlsaure Wein, der so erfrischt. Euer naives Patois. Kurz, alles, was ihr da drüben habt, scheint mir entzückend.«
    Überdem war Pierre herangekommen. Er hatte die letzten Sätze gehört. »Nichts von alledem, was du da lobst, haben wir noch drüben, mein armer Paul,« sagte er, während der Sohn den Wein einschenkte. »Alles das ist verschwunden. In den Tonnen versucht man sich in französischen Tänzen. Die Frauen haben ihre alte Tracht verlassen und kleiden sich städtisch. Elsaß-Deutsch spricht keiner aus den guten Familien mehr auf der Straße. Man halt das für unpatriotisch. Nur das Volk spricht noch sein Patois.«
    »Und du bist jetzt zufrieden mit dem Geschäft?« fragte Paul. »Früher, ich entsinne mich, klagtest du oft.«
    Pierre Füeßli zuckte die Achseln. »Unsere Gefühls – nun ja – die muß jeder mit sich abmachen. Immerhin – man hat damals nicht wegziehen wollen. Man hat darauf gerechnet, wieder französisch zu werden, nun muß man sich aus den gegebenen Verhältnissen das Beste herausholen. Das ist mir – ich kann es wohl sagen – geglückt. Sein Leben auf Rachehoffnungen aufbauen, ist immer unfruchtbar undführt zu Bereuungen.« Er wickelte sich dabei aufmerksam eine Zigarette.
    Françoise nestelte an ihrem Schleierchen. Paul bemerkte mit Verwunderung, daß ihres Mannes Bemerkung sie erregt hatte. »Du bist also zufrieden?« wiederholte er zerstreut.
    »Nicht zu schlecht. Wir haben uns auch Deutschland gegenüber bereits eine Einzelstellung erobert, wir Elsässer Textilleute. Das kommt, unsere Zeichner bewahren noch ein wenig den französischen Farben- und Formensinn, gute Tradition. Die Rokokomuster unserer Indienne haben sich überall in Deutschland eingeführt, im übrigen Reich herrscht immer bei den Fabrikanten die Angst, nur ja Neues zu bieten, immer Neues. Die Produktion tastet umher und erwirbt keine Sicherheit. Das ist es. Wir verdienen sehr hübsch. Und siehst du« – er schmunzelte – »darin sind wir vielleicht am allermeisten Franzosen geblieben, wir Elsässer, wir beten den Nutzen an.«
    Paul lachte. »Und das gibt euch natürlich eine heimliche Überlegenheit über die unpraktischen Deutschen, die in die Sterne gucken, während ihnen die Häute wegschwimmen.«
    »Aber so sind sie ja gar nicht mehr!« Françoise schrie beinahe. »Der Krieg hat sie zu Strebern gemacht, zu Leuten ohne Gefühl und Idealismus.«
    Sie hatte das Bedürfnis, sich vor Paul auszusprechen.
    Pierre legte beschwichtigend die Hand auf ihren Arm. »Sieh, wie maman galoppiert, wenn sie in die Wärme kommt,« sagte er zu Paul. Auch das Folgende sprach er zu ihm gewendet, obgleich es Antwort war für Françoise: » Maman erlebt immer noch ein wenig das Deutschland des

Weitere Kostenlose Bücher