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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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und Gefluche, ein Zurückfluten des elsässischen Alltags aus dem elsässischromantischen Pathos von vorhin. Pierre zog Françoise zurück, die sich noch hinzudrängen wollte.
    »Bleiben wir zurück. Die Wagen kommen noch ein zweites Mal, dann ist es leerer.«
    Sie standen einen Augenblick und sahen der grotesken Silhouette des Zuges nach, dem aus den Fenstern, Türen und Plattformen ein Gesträuch heftig winkender Arme und zappelnder Beine entragte.
    Viele noch außer ihnen hatten zurückbleiben müssen. Sie spazierten betrachtend und wählend zwischen den Bazarbüdchen umher, die sich zu beiden Seiten des Hotels hier herunterzogen, und versickerten allmählich in dem nur für heute aufgeschlagenen Zelte der Confiserie, deren Büfettauslagen und Ankündigungen Genüsse versprachen. Die jungen Männer aber wanderten zu dem photographischen Atelier, vor dem gespenstisch ein Mannequin seine blaue, schön verschnürte Algerieruniform unter einem kopflosen Fes trug. Dort konnten sich die jungen Elsässer in französischen Uniformen photographieren lassen. Sie schickten dann die Bilder ihren Verwandten, die damit prahlten.
    Die Füeßlis gingen inzwischen zum Hotel hinauf, das elegant und hell am Bergabhang stand. Auch hier alles festlich. Fähnchen waren auf den Terrassentischchen angebracht, das Karussel beweglicher Holzpferdchen wurde von den bunten Seidenröckchen der Hotelkinder, die sich darauf hin und her wiegten, dicht beblümt. Als Aufmerksamkeit für die Nachbarn jenseits der Grenze hatte man am Musikpavillon ein Menü ausgehängt, das mit »Sürkrüt et saucissons « begann.
    Pierre ging, an Hortense zu telegraphieren, daß sie erst später kämen. Paul führte seine Mutter inzwischen auf die Terrasse, die ins Waldtal sah.
    Es war jetzt einsam da. Die Gäste machten Toilette zum Déjeuner. Dicht neben ihnen auf deutschem Boden lag die kleine deutsche Wirtschaft, vor der vergnügt und laut redende Reisende in nicht sehr gewählter Wandertracht beim Biere saßen. Alle Männer rauchten.
    Paul sah interessiert hinüber. Ah, Reichsdeutsche, die berühmten Lodenkittel.
    Françoise zuckte verächtlich die Achseln. »Sie haben sich ausgerüstet wie für den Chimborasso, wahrscheinlich um den Hohneck zu besteigen. Kaum mehr als eine Stunde dauert das!«
    Gerade eben kamen Hand in Hand zwei junge deutsche Mädchen vorbei mit hellen, breiten Strohhüten am Arm, die sie mit frischen Blumen besteckt hatten. Ihr Schritt war elastisch, sie redeten kinderhaft eifrig miteinander. Die jungen Gestalten, in füllenhafter Ungebundenheit springend, verschwanden im Walde.
    »Pas mal,« sagte Paul, der ihnen nachsah. Ihm war, als sei ein würziger Windhauch an ihm vorbeigestrichen. Auch Françoise hatte auf die beiden drüben geschaut. »Erzähle von deinem Leben,« sagte sie jetzt.
    Er lächelte. »Mein Leben! Was verstehst du darunter?«
    »Deine Arbeit und deine Liebe,« sagte sie rasch.
    Er sah sie verwundert an. Waren das wirklich seine wichtigsten Dinge?
    Der Kellner hatte Wein und Limonade gebracht. Er wies auf einen Platz weiter seitwärts, der besser im Schatten lag. Man konnte von hier den phantastisch geformten Schluchtfelsen sehen, grün umwachsen, an einer Stelle aber nackt, Und dort, wie eine dunkle Wunde, das frisch ausgesprengte Loch des Tunnels. Paul starrte wie gebannt auf das schwärzliche Halbrund da im Felsen. Je länger er hinsah, desto mehr nahm es das Rätselhafte eines Menschenauges an. Es schien zu locken, zu versprechen.
    »Da hinüber darf ich also nicht,« sagte er unwillkürlich. »Ich nicht.«
    Seine Mutter sah ihn erschrocken an. »Du hast Heimweh?« Sie brauchte das deutsche Wort.
    Er lächelte wieder. »Was würde das schaden? Es ist sehr hübsch, etwas zu haben, nach dem man sich eine Sehnsucht einbilden kann.«
    Sie blickte noch immer ernst. »Vielleicht – wenn man gewußt hätte! Aber damals sagte man uns armen Eltern, die Franzosen könnten jeden Tag, jede Stunde zurückkommen, und deshalb ...«
    »Ich weiß gut, kleine Mama, und es reizt mich wahrscheinlich auch nur das Verbotene, das darin liegt. Das Gefühl, daß man nicht darf! Einfach nicht darf.«
    Françoise seufzte. »Man hat sich alles so anders gedacht!« Ihr Blick strich wie suchend über Pauls Gesicht. »So anders gedacht,« wiederholte sie. Dann schloß sie wie von der Sonne geblendet die Augen. Er sollte es nicht merken, daß er es war, der sie enttäuschte; nicht merken, daß sie ihn phrasenhaft fand, oberflächlich und lau.
    Was

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