Die Verborgene Schrift
angenehm Träges über ihnen,« sagte Pierre, »das einem gefällt, wenn man aus der deutschen Regsamkeit kommt. Und wieder in sie zurückkehrt,« fügte er hinzu. Er lächelte wie entschuldigend. »Ich kann es nicht leugnen, man entwöhnt sich drüben bei uns ein wenig des behaglichen laisser aller . Man kann's kaum noch.«
»Das konntest du gewiß niemals,« meinte Françoise, und es klang halb wie Neckerei, halb wie Lob. Sie sah dabei auf Paul, der lässig und elegant neben dem breiten, bürgerlich wirkenden Pierre saß.
Am kleinen Bahnhof in Gérardmer warteten Armand und Hortense Dugirard. Françoise fiel es auf, wie ungleich die zwei waren. Wie aus verschiedenen Zonen. Hortense ganz in Schwarz, herbe, mager, streng, erschien weit größer als Armand, der verblüffend seinem Vater ähnlich geworden war, in hellem Vormittagsröckchen, rundbäuchig mit schwarzgefärbtem Schnurrbart und braunen, lustigen Augen. Er winkte mit beiden Händen, ganz Liebenswürdigkeit und Eifer,sagte jedem etwas Leichtes, Verbindliches, behauptete, Françoise werde immer jünger, und umspann den ganzen kleinen Trupp mit lebhaftem Gerede.
»Aux Français de coeur,« rief der kleine Laufbursche vom Gyß und steckte den Ankömmlingen seine Menüzettel zu. »Fir die, wo im Herze franzeesch bliewe sin.«
»Potage de république et boeuf à l'Alsacien,« las Pierre lachend vor.
Hortense nahm das fast übel. »Sie müssen doch fühlen, wie gut es gemeint ist, Monsieur Füeßli.« Sie zeigte an die Tür der Brasserie, an der sie eben vorüberkamen, die in großen Lettern ein elsässisches Gedicht trug:
»Dr Gyß hat si extra Müh genumme,
wil viel Elsässer annekumme.
Er sorgt, daß sie ihr Leid vergasse
dur Müsik, Tanz, Trinke un Asse.
A güeter Tropfe Bier un Win,
a finer Immis owedrin
un billig, 's isch fascht nit zu sage,
kann m'r derfille sich d'r Mage.
A einz'ger Tag franzeesche Freid
langt für a ganz Johr Schwoweleid,«
Andächtig standen die Elsässer umher und lasen. Einige drängten sogleich hinein; die Stunde des Mittagessens, das sie heute »déjeuner« nannten, hatte geschlagen. Andere zogen ihre Gesichter zum Ernst. Sie legten jetzt erst ihren, das ganze Jahr über sauber weggepackten Patriotismus an wie ein Festkleid und verlangten danach ihn spazieren zu führen.
Armand Dugirard machte auf sie aufmerksam. »Sieht man ihnen nicht das ›Gemüt‹ in jedem Schritte an? Niemals könnte man diese Leute für richtige Franzosen halten.« Er warf einen schnellen Blick auf Hortense, die mit ihrer Schwester voranging und ihn nicht hören konnte. »Sie verstehen sich nicht zu amüsieren. Entweder sie essen und trinken, oder sie beten an. Sehen Sie nur« – er wies auf eine Gruppe Kolmarer Bürger, die nachdenklich bei den Kanonen standen, die vor dem Hôtelde la Poste unter den uralten, knorrigen Linden aufgefahren waren – »sind sie nicht wie Leidtragende bei einem Begräbnis?«
Auch die anderen sahen nun hinüber. Wirklich fiel das Halbdutzend schweigender Männer deutlich heraus aus der Art der Einheimischen und der aus Frankreich Gekommenen. In ihrem rührend steifen Anstand, ihrem schwerfälligen Ernst sprach sich das Bewußtsein aus, eine heilige Handlung zu begehen. Wagte sich ein derblustiges Wort hervor, wurde es gleich wieder unterdrückt.
»Quel drôle sérieux,« sagte Armand wieder. Er ging auf sie zu. »Dites donc, messieurs, vous allez prendre racine là-bas?«
Sie grüßten ihn ernsthaft, ohne zu antworten. Da ging er lachend weiter.
»Was mich betrifft,« sagte Paul zu seinem Onkel, »ich finde, Ihr Fest bekommt einen prachtvoll pathetischen Einschlag durch den Besuch dieser Elsässer.«
»Ästhet du,« sagte Vater Pierre.
Paul wandte sich noch einmal zurück. Er hatte einen Augenblick wirklich Lust, sich den Ernsten dahinten zuzugesellen.
»Wollen wir jetzt die Käserei sehen?« fragte Armand Dugirard.
Man hatte gefrühstückt und war ins Billardzimmer gegangen, den Kaffee zu nehmen. Die Herren trieben lässig auf dem grünen Billardtuch die Bälle aufeinander, hin und wieder zu ihren Tassen zurückkehrend, die Damen saßen mit Handarbeiten am Fenster. Désirées Töchterchen hatte soeben ihre »Cloche du monastère« beendet und kehrte zu dem Kamintischchen zurück, um mit ihrem Bruder ein Bilderbuch zu besehen, das Françoise ihnen mitgebracht hatte. Lustige elsässische Bilder, denen der Verleger für die neueste Auflage statt der elsässischen Verschen mit ihren naiven Reimen französische
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