Die Verborgene Schrift
Quine war auf der Durchreise in Straßburg und lud ihn zum Frühstück ins Hotel. Sie hatte in Bad Nauheim die Kur gebraucht, nahm in Straßburg ein paar Stunden Aufenthalt und reiste nachmittags wieder ab. Martin gab dem Boten seine Zusage. Er hatte gerade noch Zeit sich umzukleiden. Dieser Besuch aus Frankreich erschien ihm als ein Wink, eine Entscheidung für geheime Zweifel. Er würde von Paris hören, von Paul!
Der Bruder war ihm bisher eigentlich nicht viel mehr als ein fremder Herr, der alle paar Jahre einmal nach Thurweiler zu Besuch kam, sehr höflich war und sehr liebenswürdig, Photographien mitbrachte von seiner eleganten Frau und seinen beiden hübsch angezogenen Kindern, regelmäßig eins Wagenfahrt arrangierte, zu angeln verlangte, alle Leute bezauberte und dann wieder abreiste. Die spärliche Korrespondenz besorgte die junge Madame Füeßli. Sie schrieb selten, liebenswürdig und flüchtig. Meist klagte sie über ihre Gesundheit, berichtete von Pauls Erfolgen als Rechtsanwalt, fügte wohl auch einen Zeitungsausschnitt bei mit einem Zitat seiner Rede oder eine Notiz, in der die Empfänge erwähnt wurden, die die Füeßlis regelmäßig in den Wintermonaten gaben. Im Sommer reisten sie aufs Land. Die Baronin Flèche, die nach dem Tode ihres Mannes zu ihnen gezogen war, beschäftigte sich mit der Pflege und Erziehung der Kinder.
Als Martin in das Hotelzimmer eintrat, war der kleine rot tapezierte Raum gefüllt von Menschen. Albert Blanc war da mit Frau und Tochter, und neben der zierlichen weißhaarigen Baronin stand ein elegantes Herrchen von etwa zehn Jahren, der kleine Gaston, der liebenswürdig die Honneurs machte und auch Martin mit ein paar gewandten Worten empfing, ihm Grüße von Papa und Maman brachte und sich nach seinem Befinden erkundigte. Die Baronin hatte sich eine mädchenhafte Gestalt und Anmut bewahrt. Sie bot Martin eine glatte, von Essenzen duftende Wange zur Begrüßung. Ihre wunderschönen Augen standen voll Güte. Aber sie konnte mit ihm nur wenige Worte wechseln, der geniale Albert hatte bereits das Gespräch an sich gerissen, und unwillkürlich formte es sich um ihn wie ein Schülerkreis. Er sprach über lateinische und deutsche Musik, über Stradella, Nach, Berlioz, Wagner, fließend und geistreich. Sein dunkelbraunes, kräftig gelocktes Haar, die niedere Stirn und breite Nase gaben ihm etwas Imperatorenmäßiges. Er ließ seine Stimme tönen.
Der Kellner lud zum Frühstück, das man in einem besonderen Zimmer servierte. Martin saß der Baronin gegenüber, derenherbstlich milde Art ihm sehr gefiel. Sie erzählte, sie habe die Rückreise mit großer Angst angetreten, Paul hatte sie brieflich beschworen, ihre Kur, die auf noch zwei Wochen länger berechnet war, abzubrechen und so bald als möglich nach Paris zurückzukehren. Jeden Augenblick könne der Krieg erklärt werden«
Ein nachdenkliches Schweigen folgte diesem Bericht.
»Was mich betrifft,« sagte die Baronin, »ich glaube nicht mehr daran, seit ich hier bin. Alles sieht so friedlich aus.«
Der majestätische Albert schüttelte den Kopf, während er sich die Serviette am obersten Westenknopf befestigte. »Deutschlands Armee ist eine überheizte Maschine. Jeder kleinste Druck kann sie zur Explosion bringen, und« – er bewegte rednerisch die Hände – »es geht hiermit wie mit jeder anderen Vollkommenheit. Alles Vollendete verlangt nach Betätigung, nach Erfüllung seines Zwecks. Der Brief zum Beispiel, den wir geschrieben haben, gleitet in den Kastenspalt fast ohne unser Zutun; eine schöne Frau, die tugendhaft bleibt, wird niemals eine leise Melancholie überwinden können, ein Schuldgefühl der Männerwelt gegenüber. Dieses Deutschland hat so lange an seinem Heer vervollkommnet, nun ist es eine Gefahr geworden für Deutschland selbst.« Sein Blick streifte Martin, in dessen Auge die unbestimmte Ungeduld der Jugend brannte.
»Es wäre fürchterlich für unsern Sohn, für Maurice,« erklärte Madame Blanc, als wolle sie damit die Unmöglichkeit eines Krieges dartun.
Die Baronin lachte hübsch auf. Sie plauderte weiter vom Kriege, der nicht kommen würde. Und alle diese schweren und fürchterlichen Dinge bekamen zwischen ihren Lippen etwas Mildes, Wohlschmeckendes. Martin mußte sie immer ansehen. Er selbst und die übrigen Elsässer hier am Tisch kamen ihm grob vor und von plebejischer Unsicherheit gegenüber der harmonischen Gleichgültigkeit der beiden Franzosen. Denn auch der kleine Gaston zeigte bereits die
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