Die Verborgene Schrift
Anmut und Leichtigkeit seiner Rasse.
»O, die Deutschen sind nicht so schlimm,« sagte er lebhaft. »Sie amüsieren mich.« Und er erzählte lachend, wie erstaunter gewesen sei in Nauheim zu bemerken, daß sie weder immerfort laut brüllten, wie man ihm gesagt hatte, noch alle einen schlechten Geruch an sich hätten. Und daß die Speisen, die man in Deutschland bereitete, keineswegs so ekelhaft und ungenießbar seien, wie man ihn in Frankreich glauben machen wollte.
»Und werden Sie nun in Paris Ihren Kameraden die Augen öffnen hierüber?« fragte Martin belustigt.
Das Kind sah ihn mit großen, engelhaften Augen an. »O nein, Monsieur, ich würde mich lächerlich machen.«
Gegenüber am Tisch erkundigte sich Madame Blanc nach der Mutter der Baronin, Madame de la Quine, die gelähmt in einer frommen Anstalt nahe von Paris lebte. Die Baronin erwiderte, es gehe ihr nicht schlecht, sie sei sehr fromm geworden und fühle sich dort unter den Nonnen wohl.
Gaston erzählte Martin, was die Russen in Nauheim ihnen aus ihren Zeitungen vorgelesen hätten: Kaiser Wilhelm wahnsinnig geworden, will Krieg spielen, wer dagegen ist, wird erschossen. Alle Sozialdemokraten hat man gegen die Wand gestellt und getötet. »Wir haben uns anfangs nicht getraut, mit irgend jemandem zu reden, Mama und ich. Wir glaubten, ganz Deutschland würde sich aufheben gegen uns, wenn wir unser Französisch sprächen. Wie kleine Mäuschen sind wir nebeneinandergekauert, so,« und er machte es mit Jeannette vor, die neben ihm saß.
»Und dann hatten wir auch ein wenig Furcht, seit der Zabern-Affäre. Kein Mensch soll sicher sein vor den Gewehren der Offiziere,« fing die Baronin wieder an. Man liest so viel Aufregendes über das Elsaß, und man kann es verstehen, daß das Militär beim Volke so fürchterlich verhaßt ist.«
»Oft erlebt man das Gegenteil,« sagte Martin, und er erzählte sein Erlebnis mit dem ostpreußischen Soldaten und der Straßburgerin in der Eisenbahn. Es störte ihn, daß er nicht so ganz mit seinem Französisch zurecht kam. Es erschien ihm fadenscheinig und dabei holperig neben dem großstädtisch abgeschliffenen Rhythmus der beiden Pariser. Mitten in derErzählung brach er ab, fühlte sich unglücklich und fing an, seinen Traum von heute nacht zu erzählen, ohne eine rechte Pointe dazu finden zu können. Worauf Albert sich von neuem der Unterhaltung bemächtigte und sich über seltsame Träume ausließ. Er redete glatt und witzig und brachte zum Lachen. Zugleich sah er sich bei jedem neuen Gange, der serviert wurde, selbstgefällig um. Er hatte das Menü mit dem Wirt verabredet und fühlte sich stolz darauf. »Straßburger Spezialität«, sagte er bei der Gänseleber, den Eiern in Gelée und beim Croquant, einem Nachgebäck, mit glasiertem Zucker überzogen, das er besonders rühmte. »Alles echt französisch.«
Die Flèche hatte noch einen besonderen Auftrag für Martin, den sie ihm beim Kaffee flüsternd mitteilte. Paul ließe ihm sagen, er solle auf keinen Fall im Elsaß bleiben und sofort mit ihnen nach Paris kommen, noch sei es Zeit, da er ja in Deutschland seiner Dienstpflicht noch nicht genügt habe. »Paul sagt, es müsse doch für Sie unerträglich sein, in einem Lande zu bleiben, in dem man Sie früher oder später zwingen könne, gegen Frankreich zu kämpfen.«
Es lag etwas in dem Tone ihrer Stimme, das Martin aufmerken ließ. So als entledige sie sich eines Auftrags, der nicht ganz ihre eigene Billigung habe.
»Und Sie, Madame,« fragte er daher, »würden auch Sie mir raten, meine Heimat für immer zu verlassen?«
Sie schwieg. Ihre Augen bekamen einen feuchten Schimmer. »O das Elsaß! Ich war nur erst ein kleines Kind, als ich es verließ, aber ich habs es dennoch nie vergessen.«
»Sie haben recht,« sagte der große Albert, der viel getrunken hatte, drüben zu Gaston. »Sie sind alle ein wenig Besserwisser, diese Deutschen; nicht nur die Kinder da in Nauheim, von denen Sie uns erzählen. Immer wollen sie regieren oder regiert werden. Sehen sie unsere Beamten hier an. Sie haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie einmal zehn Minuten später an ihre Arbeit gehen. Man kann seine Uhr nach ihnen stellen. Ihre Titel und Orden tragen sie, als gäben erst die ihnen die Berechtigung, zu existieren.«
Martin, zuhörend, bog sich vor. Dabei knisterte Hannas Manuskript in seiner Tasche, und wie dadurch aufgerufen, erinnerte er sich des Gesellschaftsabends bei Hummel. Damals hatte der alte Geheimrat seinen Zuhörern
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