Die Verborgene Schrift
belehrsam fortfuhr.
»Mein Herr, Sie kennen die alten Pergamente, die man Palimpseste nennt. Sehen Sie, so ist es uns gegangen. Abwechselnd haben bald Germanen, bald Lateiner ihre Zeichen gesetzt auf jenes Blatt in der Weltgeschichte, das Elsaß heißt. Da müßte wahrhaftig erst der liebe Gott selber kommen und ein großes Wecken blasen, um da wieder die tiefverborgene Grundschrift zum Licht zu bringen.«
Sonderbar standen ihm plötzlich zwei Tränen in den Augen, während er lächelte. Der junge Deutsche wurde rot vor jäher Rührung. Dieser kleine, alte Mann im fleckigen Röckchen bekam Pathos für ihn und Größe. Aber der Ratsschreiber ließ es nicht recht weit kommen damit. Er zog plötzlich einen Zettel hervor und begann zu schreiben. »Ich werde das mit in mein Buch hineinbringen,« sagte er dabei. »So Sache falle eim grad nur beim Schwätze ei.« Er klappte das Manuskript zu; gleich darauf begann er, kurzsichtig auf der Schreibtischplatte tastend, eifrig in allerhand Mappen umherzusuchen. »Wo isch denn aber nur – –? Do het's g'lege, do überm große Dintefleck, und weg isch's! Tränkele, Tränkele,« rief er laut.
Ein Mann mit vertränten Augen und ungeheurer verbuchteter Nase kam herangeschlurrt und begann auf Sartorius' Geheiß in und unter den Schränken umherzustöbern.
»Such, Tränkele, such! Wo han m'r jetz' d' spanische Affäre?«
In diesem Augenblick hörte man jemanden die Treppe hinaufspringen, dann rasche, kurze Schritte über den Fliesen. In der Tür tauchte ein Kopf auf mit vollem, grauem Haar, ein Gesicht, wie aus alten Holzschnittbüchern herausgestohlen, Martin Balde. Mit schwarzen, lebhaften Augen blickte er den Fremden, der sich erhob, aufmerksam an.
»Sososososo, da haben wir also den Prussien!«Hummel verbeugte sich und nannte seinen Namen, aber der Maire lachte.
» Sans cérémonies, monsieur! Hier in Thurwiller gibt es keine Geheimnisse. Ihr Steckbrief ist bereits in jedermanns Mund.«
Dabei streckte er ihm eine warme Hand entgegen, die Hummel dankbar faßte. Der Maire wandte sich jetzt an Tränkele: ob er auch das Impfen gehörig ausgetrommelt habe? Und zu Sartorius bemerkte er auf französisch, man dürfe die Antwort an den Präfekten nicht verschieben. Wo denn das Schriftstück sei? Damit man es beantworten könne. Er sah eine Weile kopfschüttelnd zu, wie Sartorius und Tränkele nach dem Briefe suchten.
»Doch nicht in den uralten Akten, mon cher! Allons donc! « Mit ein paar Griffen schob er die Skripturen auf dem Schreibtisch beiseite und entdeckte nun das leere Kuvert mit dem Präfektursiegel.
»Darin hat es gestern nachmittag noch gesteckt,« erklärte der Ratsschreiber.
»Also nicht verloren, sondern gestohlen!« Balde gab aufs Geratewohl dem Tränkele, der sich tief in den Schrank gebückt hatte, einen derben Schlag, der ohne jede Erwiderung akzeptiert wurde.
»Un du sorgsch dafür, daß es morn doliegt! Hörsch?«
Er hatte nicht besonders die Stimme erhoben, aber der Tränkele lief, die Hände an beiden Ohren, davon, wie vor dem Donner des Jüngsten Gerichts.
Die Uhr schlug Zwölf. Hummel erinnerte sich seines Gastversprechens und verabschiedete sich. Balde hatte sich in den Schreibstuhl gesetzt.
»Ja, gehen Sie nur,« sagte er gemütlich, »Madame Bourdons Pasteten sind heilig.« Er gab ihm die Hand. » Au revoir. Und kommen Sie auch mal zu mir, wenn Sie sich für Altertümer interessieren. Mein Haus ist einmal Schloß gewesen, Kloster, was Sie wollen. Kommen Sie zur Vesper heute.«
Hummel sagte dankbar zu, aber – das Altertum in Ehren – er dachte dabei an etwas recht Junges: an die blonde Françoise und die zierliche Lucile.
Balde sah ihm nach, wie er breitschultrig und elastisch durch den Saal ging. » Un garçon tout d'une pièce! « sagte er wohlgefällig. Dann klopfte er dem verträumten Ratsschreiber auf den Arm:
» À nous maintenant, père Anselme! Der Brief des Präfekten ist verschwunden, wohlan, man muß ihn aus der Erinnerung beantworten.«
Und er diktierte folgende Worte auf französisch:
»Herr Präfekt, in Beantwortung Ihrer Anfrage vom 9. Juli teile ich Ihnen mit, daß die allgemeine Stimmung in bezug auf die spanische Affäre hier im Elsaß eine friedfertige, ja eine gleichgültige ist und das auch bleiben wird, falls es den Versuchen des Klerus und seiner Abgesandten nicht doch noch gelingt, das Volk in eine kriegerische Stimmung hineinzuhetzen.
Falls zu den Meinungen, die der Herr Präfekt zu kennen wünscht, zufällig auch
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