Die Verborgene Schrift
leidenschaftlich.
»Ihr? Wen meinst du?«
Sie antwortete darauf nicht. »Ihr sucht euch immer Gründe für eure Empfindungen. Moralische Gründe.« In ihren Augen glomm es auf wie Haß. »Ob ich im Recht bin oder im Unrecht, was geht mich das an? Mit diesen Händen würde ich...«
Plötzlich zuckte sie zusammen, schrie auf und fiel zu Boden. Ein Stein, mit Kraft vom Gassenschlupf geschleudert, hatte sie an der Schläfe getroffen. Der ganze Teppich war sogleich voll Blut. Balde, selber totenblaß geworden, mühte sich um sie und rief zwischendrein nach Helfenden. Die Stube füllte sich mit mysteriöser Plötzlichkeit, wie mit Leidtragenden. Die Blutung war schnell gestillt, die Wunde erwies sich als gutartig. Aber erst nach einer halben Stunde bekam Frau Balde ihr Bewußtsein wieder. Sie lag auf dem Sofa, matt und herbe unter ihrem weißen Verbande, und las den Zettel, den man an den Stein gebunden hatte:
»Die verdammt luthrisch Madam, wo uns die Prussiens uf d'r Hals hetzt, muß dra glauwe.«
Sie lachte auf. »Und gerade in diesem Augenblick! Niemals war ich mehr Französin als in diesem Augenblick, da man mich als Vaterlandsfeindin bedroht.« Sie verlangte, man dürfe Balde den Zettel nicht zeigen. »Er braucht es nicht zu wissen, daß man Feinde hat. Er meint es so gut mit allen.«
Aber Balde hatte längst gelesen. Als man mit ihm beraten wollte, was zur Verfolgung der Täter geschehen solle, lehnte er alles ab. »Die Schuldigen trifft man doch nicht.« Aber er hatte seinen guten treuen Kinderblick verloren seit jenem Nachmittag.
Das Leben ging weiter. Balde hatte viel zu tun mit seinen Rekruten. Immer mehr meldeten sich. Es zeigte sich jetzt hier im Elsaß im deutlichen Unterschied zu den flammenden, müßigen Tiraden der französischen Zeitung ein gut beharrlicher Mut, der nicht viel Redens machte, sondern zu Taten schritt. Aber neben dem Mut stand die Wut. Sie galt nicht dem unbekannten Feind, gegen den man sich rüstete, man dachte kaum viel an ihn, sie galt den Generalen, denen man die Schuld gab an den Niederlagen draußen, den Staatsmännern, die den Krieg nicht verhindert hatten, dem Kaiserhause, für das man sich opferte. Mit zusammengebissenen Zähnen übte man à droite, à gauche und schulterte die Stöcke. Die Jüngeren bewahrten einen gespannten Ernst, die Älteren gaben sichAusbrüchen einer spöttischen Heiterkeit hin, wenn sie einander in dieser ungewohnten Situation betrachteten.
Die übrige Bevölkerung hatte sich irgendwie in den Alltag wieder hineingefunden.
Françoise saß im Drogenstübchen bei Tante Amélie. Sie hatte solche Sehnsucht gehabt nach diesem Winkel, in dem Heinrich gesessen hatte, solche Sehnsucht, die Dinge dort, die sie kannte, mit seinen Augen neu zu betrachten. Nun war sie da hineingeschlüpft und hielt verstohlen Rundschau. Sie streichelte die Garnwinde, an der Madame Bourdon wieder wickelte, vergriff sich flüchtig an dem Spieldöschen, daß ein paar Töne von »Freut euch des Lebens« herauskamen, tippte an Camilles Hauskäppchen und Pfeife und sog den Kamillen- und Äthergeruch ein, den ihr Liebster einmal geatmet hatte. Dann kam es über sie, wie fern das alles jetzt war, wie weit fort von ihm und ihr alle diese friedliche Enge und Gleichmäßigkeit. Jetzt war Sturm.
Sie horchte auf das Gewitter, das draußen prasselte und polterte. Fürchterliche Regengüsse, Blitze, Donner. Es war fast dunkel in dem grün umwachsenen Stübchen. Tante Amélie hatte sogar die Vorhange zugezogen. Sie konnte nicht blitzen sehen. Sie jammerte über ihren Jules, von dem sie keine Nachricht hatte. Sie zeigte dem Gast das Bild des Sohnes, das am Fenster hing. »Jetzt lugt er andersch üs wie sellemol, gell, wo ihr nix von ihm habt wisse wolle.«
Françoise wurde rot. Sie war noch ein Kind gewesen, da hatte Vater Camille bei Balde angeklopft wegen einer späteren Heirat zwischen Jules und ihr. Balde hatte den Vorschlag rund abgewiesen. Er hielt nichts von der alten Art. Seine Kinder sollten selbst wählen. Der Groll des Pharmacien gegen den Arzt hatte zum großen Teil seinen Grund in dieser Affäre. Françoise selbst hatte erst ganz vor kurzem davon erfahren. Jetzt, eingehüllt in das Glück ihrer starken, heimlichen Liebe, strich sie wie abbittend der alten Frau über die warme, gemütliche Hand. Liebenswürdig ging sie dann noch einmal zu Jules' kleinem Bilde und lobte sein gutes Aussehen. »DerHenriquatre steht ihm à merveille .« Dabei schielte sie auf das Bildchen des
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