Die verborgene Seite des Mondes
müssen. Stöhnend wälzte sich Simon auf dem verknitterten Laken herum. Er war müde, konnte jedoch nicht einschlafen. In ihm hatte sich eine neuartige Unruhe breitgemacht, die er nicht mehr abzuschütteln vermochte.
Seit Julia und ihre Mutter auf der Ranch waren, ging alles nur noch scheinbar seinen gewohnten Gang. Unter der Oberfläche des All tags gerieten die Dinge in Bewegung, das merkte Simon ganz deut lich. Etwas veränderte sich und das beunruhigte ihn. Denn jede Ver änderung hatte ihren Preis. Im Grunde hatte es schon begonnen, bevor die beiden hier angekommen waren. Simon kannte die Stim mung, wenn sich Besuch ankündigte, doch diesmal war alles anders gewesen.
Veola war des Öfteren aufgetaucht und dann hatte er laute Stim men aus dem Ranchhaus gehört. Ada hatte wütend das Haus ge putzt und vergeblich versucht, Ordnung in ein Chaos zu bringen, das vermutlich schon seit dreißig Jahren existierte.
Aber abgesehen von diesen Dingen, gab es auch noch etwas anderes, das Simon nicht zur Ruhe kommen ließ: Er bekam Julias traurige Augen nicht aus dem Sinn. Manchmal, wenn sie sich unbeobach tet fühlte, hatte er sie angesehen und gespürt, dass sie mit ihren Gedanken ganz weit weg war. Nur wo?, das hätte er gerne gewusst.
Was war bloß los mit ihm? Wieso interessierte ihn dieses Mäd chen auf einmal?
Pepper wachte auf und hob den Kopf.
»Hey, Kumpel, wie findest du sie?«, fragte Simon.
Der Hund winselte leise.
»In Ordnung? Na, dann sind wir ja ausnahmsweise mal einer Mei nung.«
Boyd verbrachte seinen Abend mit Kopfhörern vor dem Fernseher. Der Empfang war schlecht und das Programm miserabel, aber das schien den alten Mann nicht zu stören. Halb bekleidete Damen schwangen ihre langen Beine im Takt und zeigten strahlende Gebis se. Julias Großvater amüsierte sich köstlich und ab und zu konnte sie ihn lachen hören.
Hanna war müde. Sie wünschte allen eine gute Nacht und machte sich auf den Weg zum Trailer. Ada brachte Tommy ins Bett und kam nicht wieder. Julia setzte sich an den Küchentisch unter die nackte Glühbirne und schrieb einen Brief an ihre Freundin Ella. Oder bes ser, sie versuchte einen Brief zu schreiben.
Nach den ersten Sätzen über den Flug, die Fahrt und die Ankunft auf der Ranch fiel ihr nichts mehr ein. Gedankenverloren kritzelte sie auf ihrem Schreibblock herum. Sie konnte nicht die Wahrheit schreiben darüber, was die Ranch wirklich war, nämlich ein einziger großer Schrottplatz mit ein paar armseligen Rindern. Nicht einmal Pferde gab es. Ella liebte Pferde, damit hätte Julia bei ihrer Freundin Eindruck machen können.
Die Wahrheit über ihre indianische Familie konnte sie auch nicht schreiben. Zum Beispiel, dass ihr Halbbruder Jason zwar ein cooler Typ war, sie aber offensichtlich nicht leiden konnte. Tommy, ihr indianischer Cousin, war ein gruseliger Freak und ihre Großmutter keineswegs eine gütige alte Indianerin, die ihrer Enkelin Lebensweisheiten beibrachte. Sollte sie Ella schreiben, dass sie aus Marmeladengläsern trank und in einem Wohnkasten aus Blech schlafen musste, in dem es keinen Strom, kein Wasser und nicht einmal eine funktionstüchtige Haustür gab?
Irgendwann kam ihr Großvater aus dem Wohnzimmer geschlurft, holte die Schokolade aus dem Kühlschrank und setze sich zu ihr an den Tisch.
»Wem schreibst du?«, fragte er.
Sie riss ein leeres Blatt vom Block und schrieb: Meiner besten Freun din.
Er las und nickte.
»Ich hoffe, du schreibst nur Gutes über deine Indianerfamilie.«
Na klar , schrieb sie und lächelte. Julia sah den alten Mann vor sich sitzen und genüsslich an der Schokolade knabbern. Sie musste da ran denken, dass die Ranch mit fünf Millionen Dollar verschuldet und nicht zu retten war. Dass die dunklen Hände ihres Großvaters jeden Tag das Land bearbeiteten, als wüsste er nichts davon.
Warum füttert ihr die Kühe mit Heu? , schrieb Julia. Da draußen gibt es so viel Gras.
»Das sind Jährlinge, sie haben noch keine Brandzeichen. Wenn wir sie in den Bergen grasen lassen, kommt das BLM und nimmt sie uns weg.«
Wann bekommen sie ihr Brandzeichen?
Boyd zuckte mit den Achseln. »Das schaffen wir nicht alleine. Dazu brauchen wir Hilfe.«
Was ist mit Jason?
»Jason ist Jason«, sagte er. »Seit Simon da ist, lässt er sich hier kaum noch blicken.«
Wie alt ist Simon und wo kommt er her, schrieb Julia und setzte ein dickes Fragezeichen dahinter.
Der alte Mann sah sie einen Augenblick nachdenklich an und sagte schließlich: »Ich
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