Die verborgene Seite des Mondes
dem Ver sammlungsplatz übernachten würden.
Julia erkundigte sich bei ihrer Mutter nach der heißen Wanne, von der Ian gesprochen hatte, und Hanna erzählte ihr, dass es in den Hügeln hinter der Ranch eine natürliche heiße Quelle gab, die von den Shoshoni schon seit ewigen Zeiten als Badestelle genutzt wur de.
»Würdest du die Stelle finden?«
»Ja, na klar. Das ist eine gute Idee. Ich glaube, wir haben beide ein Vollbad dringend nötig.«
Julia war noch nie so schmutzig gewesen und noch nie so müde. Auf der Heimfahrt schlief sie beinahe ein, doch als sie vor dem Trai ler parkten, mahnte Hanna sie zur Eile.
»Dahinten ziehen dunkle Wolken auf. Sieht nach einem Gewitter aus. Wenn es losgeht, sollten wir wieder hier sein.«
Julia packte saubere Sachen in einen Beutel, schnappte ihre Waschtasche und ein Handtuch. Auch Hanna hatte schnell alles bei sammen. Dann stiegen sie wieder in den Chevy. Julia merkte sich die Abzweigung vom Schotterweg, die durch die Beifußwüste hi nauf in die Berge führte.
Der Wagen schlingerte durch tiefe, trockene Radfurchen, und ob wohl Hanna langsam fuhr, schlug der Unterboden gegen Steine, die aus der harten Erde ragten. Schon begann Julia daran zu zweifeln, dass ihre Mutter den Weg wirklich noch wusste, da tauchte hinter einer Biegung urplötzlich eine Badewanne auf.
Hanna parkte den Wagen ein paar Meter entfernt und sie stiegen aus. Julia fehlten die Worte. Das hier war unglaublich! Da stand eine weiße Badewanne mitten im Grünen. Ein Brettersteg führte um sie herum. Aus dem Berg kam ein weißes Plastikrohr, das in einer Blechrinne lag, die wiederum in ein großes Fass von anderthalb Me tern Durchmesser führte. Daneben stand eine Tonne, die ebenfalls randvoll mit Wasser gefüllt war.
Julia wollte in das Fass greifen, um zu testen, wie warm das Was ser war, aber Hanna hielt sie zurück: »Nicht. Es ist sehr heiß. Ich zei ge dir, wie es geht.«
Sie stöpselte den Abfluss der Wanne zu und hängte das Plastik rohr hinein, sodass sich die Wanne mit heißem Wasser füllte. Mit ei nem Eimer trug sie kaltes Wasser aus der Tonne heran, goss es da zu, bis die Wanne voll genug war und das Wasser die richtige Tem peratur hatte.
Hanna erzählte ihr, dass die heißen Quellen, von denen es hier ei ne Menge gab, große spirituelle Bedeutung für die Shoshoni hatten. Geistwesen waren an diesen Orten zu Hause, die es zu respektieren galt.
Julia sah sich verdutzt um und Hanna lachte.
»Du zuerst«, sagte sie. »Ich laufe noch ein bisschen herum. Ruf mich, wenn du fertig bist.«
Das ließ sich Julia nicht zweimal sagen. Flugs war sie aus ihren staubigen Kleidern und stieg in die Wanne. Es war herrlich warm, das Wasser, und roch leicht nach Schwefel. Um sie herum blühten Gräser und Blumen mit gelben, weißen und lila Blüten. Und sie hat te einen weiten Blick über die ganze Ebene, diesen gewaltigen Tep pich aus Wüstenpflanzen, bis zu den Bergen der Shoshone Range auf der anderen Seite, auf deren Kuppen noch Schnee lag.
In der Ferne konnte sie die Siedlung Eldora Valley erkennen, sah die helle Linie der Schotterpiste, die zur Ranch führte. Da waren das Camp und der Schrottplatz. Und das weiße Ranchhaus in seinem Nest aus Pappelbäumen, mitten in der scheinbar endlosen Halbwüs te.
Eine rote Abendsonne verschwand langsam hinter den Bergen auf der anderen Seite. Es war das schönste Vollbad im größten Bade zimmer, das Julia je genommen hatte. Sie begann zu ahnen, welche Dimension der Begriff Freiheit haben konnte, und plötzlich begriff sie auch, warum ihr Vater in Deutschland immer unter Sehnsucht gelitten hatte. Er war mit dieser Freiheit aufgewachsen, all das hier hatte ganz selbstverständlich zu seinem Leben gehört.
In diesem Augenblick fühlte Julia sich ihm sehr nah und gleichzei tig beschlich sie wieder diese tiefe Traurigkeit. Sie spürte, dass sie ihren Vater besser kennenlernte, seit sie auf der Ranch war. Aber wie gut konnte man einen Menschen kennenlernen, der nicht mehr da war?
Ihre Mutter kam zurück, Julia stieg aus dem Wasser und rubbelte sich trocken. Während Hanna badete, saß sie auf einem Stein, kämmte ihr Haar und versuchte, sich alles um sie herum genau einzuprägen. Damit es ihr niemand mehr wegnehmen konnte. Damit sie es sich vorstellen konnte, wenn sie es brauchte – so wie ihr Vater, wenn er seine Bilder gemalt hatte.
Die Sonne war bereits untergegangen, als sie sich auf den Weg zu rück zur Ranch machten. Die Gewitterwolken hatten sich
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