Die verborgene Seite des Mondes
Staatsbeamten verurteilt und für neun Monate einge sperrt«, fuhr Hanna schließlich fort. »Im Gefängnis haben sie ihn so furchtbar verprügelt, dass er sein Gehör verlor.«
Julia starrte ihre Mutter an. »Pa und du, ihr seid nach Deutschland gegangen und habt Granny allein gelassen, obwohl Grandpa im Ge fängnis saß?«
»Ja. Damals wusste ich schon, dass ich schwanger war, und mir wurde klar, dass ich mein Kind nicht an einem Ort aufwachsen las sen wollte, an dem so etwas passieren konnte. Ich wollte, dass du sicher und glücklich bist.« Hanna sah Julia an. »Mag sein, das Ganze kommt dir grausam und ungerecht vor. Aber eines Tages, wenn du selbst Kinder hast, wirst du mich verstehen.«
Mit einem Mal wurde Julia klar, warum Ada Hanna so herablassend behandelte. John hatte seine Mutter im Stich gelassen, als sie ihn am meisten brauchte. Er hatte es für Hanna getan und für sein ungeborenes Kind. Ein Gefühl von Schuld überschwemmte Julia, heftiger als noch am Nachmittag in Jasons Gegenwart.
»Ich bin müde«, sagte sie und schob sich aus dem Sessel. Was sie erfahren hatte, schmerzte und sie wollte nicht, dass ihre Mutter es mitbekam.
Hanna wünschte ihr eine gute Nacht, aber Julia erwiderte nichts. Sie ging in ihr Zimmer, legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Das neue Wissen lastete schwer auf ihren Schultern und sie begann, ihren Vater mit anderen Augen zu sehen.
Warum hatte er ihr nie erzählt, dass Boyd taub war und wie es da zu gekommen war? Warum hatte er nie die beschlagnahmten Tiere erwähnt und die horrenden Schulden, die seine Eltern hatten? Wann hätte er es ihr erzählen wollen?
Julia war enttäuscht, weil ihr Vater so wenig Vertrauen in sie ge habt hatte. Sie war traurig, weil er ihr nicht so nah gewesen war wie sie ihm.
10.
H anna weckte Julia kurz nach halb fünf. Draußen wurde es lang sam hell und die Kühle der Nacht ließ sie frösteln, als sie sich im kleinen Bad über dem Waschbecken die Zähne putzte. Frühstück gab es nicht. Zur Zeremonie, die bei Sonnenaufgang stattfinden würde, erschien man nach altem Shoshoni-Brauch nüchtern.
Als Julia auf den Vorplatz gelaufen kam, sah sie, dass Boyd Tommy bereits in den alten Truck gebracht hatte, wo der Junge unruhig auf dem Lenkrad herumtrommelte und Tierlaute von sich gab.
»Ihr müsst den Leihwagen nehmen«, sagte der alte Mann, der wie gewöhnlich seine Arbeitskleidung trug. »Der Tank von Adas Ford ist so gut wie leer.«
Julia blickte ihren Großvater überrascht an.
»Will Grandpa nicht mitkommen?«, fragte sie ihre Granny. Was war mit der Abschiedszeremonie für seinen Sohn? Würde der alte Mann nicht dabei sein?
»Einer von uns beiden muss bei Tommy bleiben«, sagte Ada. »Es geht nicht anders. Der Junge hatte eine schlimme Nacht.« Sie nickte zum Truck hinüber. »Wir können ihn nicht mitnehmen und mit Si mon allein lassen können wir ihn auch nicht. Es könnte sein, dass Tommy ausrastet.«
Boyd schien trotz seiner Taubheit mitbekommen zu haben, wo rum es ging. »Ist nicht schlimm, Julia«, sagte er. »Außerdem weiß ich, wie sehr Simon sich auf das Sommertreffen freut. Vielleicht lernt er dort ja endlich ein Mädchen kennen.« Boyd zwinkerte ihr zu.
Julia sah ihn an und fragte sich, ob es ihm wirklich so leichtfiel, wie er tat. Sie wusste nur eins: Ihr Großvater hatte ein gutes Herz.
Simon erschien mit Schlafmustern auf dem Gesicht und Pepper umkreiste bellend den Chevy. Wie immer wollte er mit. Aber Simon schickte ihn mit einem Seitenblick auf Ada fort.
Hanna setzte sich ans Steuer, Ada auf den Beifahrersitz. Simon und Julia hockten auf der Rückbank. Pepper rannte ihnen noch ein paar Meter kläffend hinterher, bevor er aufgab und mit eingezoge nem Schwanz zurückhumpelte.
Julia musterte Simon aus den Augenwinkeln. Heute trug er saube re und vor allem löcherfreie Kleidung. Ausgeblichene Jeans, ein leuchtend rotes T-Shirt und darüber sein unvermeidliches kariertes Hemd. Diesmal war es grün-weiß gemustert.
Es war eine stille Fahrt und Julia war froh darüber. Ada nickte im mer wieder für ein paar Minuten weg und auch Simon schien zu schlafen, oder zumindest tat er so.
Sie kamen an der Halde der Goldmine vorbei und folgten den Wegweisern in die Berge. Wie ein grauer Riese erhob sich der Mount Tenabo gegen den rötlichen Morgenhimmel. Julia ging durch den Sinn, dass sie erst vier Tage hier war. Dabei hatte sie das Gefühl, als wären es schon vier Wochen. So etwas hatte sie noch nie erlebt und sie
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