Die verborgene Seite des Mondes
ahnte, dass es eine Bedeutung hatte.
Hanna parkte den Chevy zwischen zwei Transportern am Weges rand und sie stiegen aus. Die Luft war noch kühl so weit oben in den Bergen und Julia schloss fröstelnd den Reißverschluss ihrer Jacke. Sie hatte ihre Khakis angezogen, die man in Shorts umwandeln konnte, und trug eine dunkelrote Joggingjacke über einem ärmello sen Top. An einem Band um ihren Hals hing ein kleiner Lederbeutel, der Talisman ihres Vaters. Während der Zeremonie wollte sie den Lederbeutel dem Land übergeben, das ihr Vater so geliebt hatte.
Das Camp schien sich über Nacht gefüllt zu haben, es blinkten viel mehr bunte Zelte zwischen den Beifußsträuchern hervor als am gestrigen Tag. Nicht weit vom Küchenzelt hatte man das große Ver sammlungszelt aufgebaut.
Ein Großteil der Bewohner war schon auf den Beinen. Einige schienen eben erst aus ihren Unterkünften gekrochen zu sein und sahen noch ganz verschlafen aus. Ein alter Mann stand auf dem von Büschen umgebenen Platz, in dessen Mitte ein Feuer loderte. Er schlug eine Handtrommel und rief die Leute zur Sonnenaufgangsze remonie zusammen. Nach und nach sammelten sich die Anwesen den, um einen großen Kreis um den Trommler zu bilden.
»Das ist Caleb, der Medizinmann«, raunte Hanna ihrer Tochter zu.
Julia stutzte. Einen Medizinmann hatte sie sich anders vorgestellt. Irgendwie geheimnisvoller oder auch ein wenig Furcht einflößend. Doch Caleb Lalo war ein kleiner Mann mit kurz geschorenem Haar und freundlichen braunen Augen. In Jeans und Sweatshirt geklei det, fiel er unter den anderen überhaupt nicht auf. Julia hatte sich vorgestellt, dass die Shoshoni zur Zeremonie in traditioneller Klei dung erscheinen würden, aber sie hatte sich getäuscht.
Sie stellte sich zwischen ihre Mutter und Simon in den Kreis, mus terte die Gesichter der anderen und merkte, dass auch sie neugierig beobachtet wurde. Einige der Anwesenden erkannte sie vom gestri gen Tag wieder und begrüßte sie mit einem Kopfnicken. Govinda war da, Frank Malotte und die anderen Männer und Frauen, die beim Aufbau der beiden großen Zelte geholfen hatten. Julia ver misste Ian, aber der schlief vermutlich noch.
Von Jason und seiner Familie war nichts zu sehen und Julia fragte sich, warum sie nicht gekommen waren. Dass Veola auf diese Weise reagierte, konnte sie verstehen, aber was war mit Tracy und Jason? Sollte der Groll ihrer Halbgeschwister gegen die zweite Frau ihres Vaters so groß sein, dass sie der Abschiedszeremonie demonstrativ fernblieben?
Caleb begann zu den dumpfen Schlägen der Trommel zu singen. Der Medizinmann sang auf Shoshoni und einige Worte verstand Ju lia. Jede Strophe beendete er mit Shundahai und die Anwesenden sprachen dieses Wort nach. Julia kannte die Bedeutung. Es hieß: Frieden und Harmonie für alle Wesen.
Schon als kleines Kind war sie fasziniert gewesen, wenn ihr Vater versucht hatte, ihr einige Worte seiner Muttersprache beizubrin gen. Dass ein einziges Shoshoni- Wort genügte, um etwas auszudrü cken, wofür man eine ganze Reihe deutscher Worte brauchte.
Julia war so gebannt von der wohlklingenden Sprache des alten Mannes, dass sie zusammenzuckte, als Simon plötzlich nach ihrer Hand griff. Auch alle anderen fassten sich an den Händen. Julia konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal die Hand ihrer Mutter gehalten hatte. Hannas Hand war kalt und feucht. Simons dagegen fühlte sich warm und trocken an. Irgend wie tröstlich. Seine Handflächen an ihren, schwielig und rau von der Arbeit auf der Ranch. Sie blickte ihm kurz ins Gesicht, wandte den Kopf aber sofort wieder ab.
Einen Moment später drängte sich jemand zwischen sie. Es war Ian. Er hatte noch ganz kleine Augen und trug vermutlich seinen Schlafanzug: ein weites Sweatshirt und schlafzerknitterte Jogging hosen. Mit einem strahlenden Guten-Morgen-hier-bin-ich-Lächeln griff er nach Simons und Julias Händen.
Caleb begann von der Erde zu sprechen und von der Zukunft. Die Sonne war noch hinter dem Mount Tenabo versteckt und Julia fror in der kühlen Morgenluft. Sie begann zu zittern, versuchte aber, sich zusammenzureißen. Ian zog sein Sweatshirt aus und gab es ihr. Dankbar zog sie es über. Es verströmte einen süßlichen Duft und wärmte wunderbar.
Als der Medizinmann schließlich mit einer Dose herumging, damit jeder eine Handvoll getrockneten Salbei herausnehmen konnte, mischten sich ein paar Spätankömmlinge in den Kreis. Es waren Ja-son, seine Mutter Veola, ein Mädchen,
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