Die verborgene Seite des Mondes
das Tracy sein musste, und eine blonde Frau, die zwei kleine Kinder bei sich hatte. Die Frau sah jung aus, sehr jung, in ihren hautengen Jeans und dem bauchfreien Top. Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hatten dreckver
schmierte Gesichter und steckten in abgerissenen Sachen.
Als das Mädchen anfing zu weinen, nahm Jason es auf den Arm.
Julia musterte Tracy, suchte nach Ähnlichkeiten mit sich selbst und fand nicht viele. Ihre Halbschwester war mollig und hatte ein rundes Gesicht. Das Haar trug sie straff nach hinten gekämmt, was wenig vorteilhaft aussah. Genauso wie die engen schwarzen Leg gins, die Tracys Körperfülle noch betonten.
Plötzlich setzte der dumpfe Schlag der Trommel wieder ein und das Gemurmel der Anwesenden erstarb. Ada trat in die Mitte des Zirkels ans Feuer, um zu sprechen. Julia atmete tief durch. Es war so weit. Die rauchige Stimme ihrer Großmutter klang laut und klar durch die Morgenluft, als sie anfing von John zu erzählen, ihrem einzigen Sohn. Dass er vor vielen Jahren aus Newe Sogobia , der Hei mat der Shoshoni, weggegangen war, um in einem anderen Land zu leben, und dass er dort gestorben war.
Julia hörte die Bitterkeit, die aus den Worten ihrer Großmutter klang. Konnte sie ihrem Sohn immer noch nicht verzeihen? Nicht einmal heute?
»Johns Kinder sind gekommen, um zusammen mit ihren Müttern und allen, die ihn gekannt haben, von ihm Abschied zu nehmen. Johns Körper wurde dort begraben, wo er gestorben ist«, sagte Ada, »wie es unser Brauch will. Aber seinen Geist werden wir heute nach Newe Sogobia zurückholen, damit er frei sein kann.«
Julia, vom plötzlichen Gefühl der Trauer überwältigt, konnte die Tränen nicht zurückhalten, die in ihr aufstiegen. Aber es war eine andere Art Trauer als jene, die sie kurz nach dem Tod ihres Vaters empfunden hatte. Sie wallte auf und trug sie mit sich fort, anstatt sie niederzudrücken.
Veola, Jason und Tracy traten zum Feuer, streuten Salbei in die Flammen und verharrten mit gesenkten Köpfen. Nur zu gerne hätte Julia gewusst, was in ihnen vorging.
Nach einer Weile wandten sich die drei vom Feuer ab und kehrten in den Kreis zurück. Hanna zog an Julias Hand. Zusammen mit ihrer Mutter ging auch sie auf das Feuer zu, streute Salbei hinein und übergab den Medizinbeutel ihres Vaters den Flammen. Als Julia dort neben ihrer Mutter stand, beim Klang der Trommel am Fuße des Te nabo, musste sie daran denken, wie sie sich auf der Beerdigung in Deutschland gefühlt hatte. Damals hatte sie nicht viel von ihrer Um gebung wahrgenommen, hatte sich wie eine leere Hülle gefühlt, die da am offenen Grab stand. Hier jedoch erschien ihr alles ganz wirk lich. Ganz nah.
Julia hatte das Gefühl, zum ersten Mal wirklich Abschied von ih rem Vater zu nehmen. Von einem Mann, den sie gar nicht richtig ge kannt hatte. Das wusste sie nun.
Die ersten Sonnenstrahlen lugten über den dunklen Berg und Julia musste blinzeln. Endlich wurde es warm. Sie stellten sich in den Kreis zurück und noch einmal fassten alle Anwesenden einander an den Händen.
Nach Beendigung der Zeremonie strömten die meisten zum Kü chenzelt, wo Dominic mithilfe zweier Indianerinnen Frühstück vor bereitet hatte. Zuerst kamen die Alten an die Reihe, dann die Kin der, zuletzt alle übrigen Gäste.
Julia zog sich in den Schatten einer Pinie zurück, sie musste einen Moment allein sein, bevor sie sich wieder unter Menschen begeben konnte. Niemand störte sie und das war gut so. Sie atmete den har zigen Duft der Pinie und fühlte sich wie von einer schweren Last be freit. Die Seele ihres Vaters war hier, das spürte sie ganz deutlich.
Wenig später fasste sie jemand an der Schulter und sie drehte sich erschrocken um. Jason kauerte hinter ihr, das kleine blonde Mäd chen auf dem Arm. »Guten Morgen, Schwesterherz. Hast du mal ei nen Augenblick Zeit?«
Sie stand auf. »Warum nicht.«
Jason führte Julia zu seiner Schwester und der blonden jungen Frau. Die beiden erzählten lachend und rauchten. Der kleine Junge hockte zu Füßen seiner Mutter und spielte mit einer roten Spiderman-Figur. Er hatte eine frische, zwei Zentimeter breite Wunde zwischen Unterlippe und Kinn, um die sich augenscheinlich niemand gekümmert hatte. Blut und Rotz bildeten eine Kruste auf seinem Gesicht.
»Tracy«, sagte Jason, »das ist unsere Schwester.«
Julia nannte ihren Namen und konnte nicht verhindern, dass sie rot wurde.
Tracy unterbrach ihr Gespräch und setzte ein freundliches Lächeln auf. »Hi,
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